Im Dunkel der Schuld
Haus uninteressant, Ebba und Rosie haben sich Hand in Hand davongemacht, die Weiten des Grundstücks zu entdecken, auch wenn das eigentlich nicht gestattet ist. Aber wen stört es schon. Mama ist in der Kirche, und Papa hat sich in sein Atelier verkrochen, und das bedeutet, dass er frühestens am Abend hervorkommen wird. Dann wird es zwar wieder ungemütlich werden, aber die Zwischenzeit haben sie zu nutzen gelernt.
Irgendwann hören sie das Gartentor quietschen und halten erschrocken den Atem an. Auch am anderen Ende des Grundstücks ist alles still, so als versuchte Georg, der offensichtlich beim Heimkommen nicht aufgepasst hat, das verbotene Geräusch ungeschehen zu machen. Vergeblich.
»Kinder, hierher!«
Diesem Befehl darf sich niemand widersetzen. Mit klopfendem Herzen und immer noch an der Hand der Schwester, trippelt Ebba in Richtung Atelier.
Bruno Seidel steht in der offenen Glastür, in einer Hand eine schlanke Flasche, in der anderen seinen Gürtel.
»Wer von euch war am Tor?«
Georg wirft seinen Schwestern einen alarmierten Blick zu.
»Ich«, sagt er.
»Lüg nicht! Ich seh deinen Schwestern an, dass sie etwas ausgefressen haben.«
Ebba macht sich los und verkriecht sich hinter Rosie. Sie will nicht wieder in die Truhe. Da fürchtet sie sich. Es ist so dunkel da drinnen. Sie hat den Nagel nicht dabei, mit dem sie beim nächsten Mal ein Loch ins Holz bohren will. Deshalb will sie nicht in die Truhe. Nie weià man, wann man wieder raus darf oder ob man vielleicht darin vergessen wird. Sie wird einfach ganz schnell weglaufen, wenn Papa sie packen will, auch wenn er dann morgen wieder so schrecklich weint und ihr sagen wird, dass sie schuld sind, wenn er mal stirbt.
Georg guckt ganz komisch und sieht zu Boden.
»Aber ich war es wirklich«, sagt er. »Ich habe nicht aufgepasst, Papa, entschuldige bitte.«
Papa bekommt einen glasigen Blick und wird ganz rot. »Du widersprichst mir? Du stellst dich vor deine Schwestern? Willst sie beschützen, hä?«
Georg greift sich an den Hals. »Ich, ich â¦Â«, stottert er. Seine Lippen werden weiÃ, und die Ader an seiner Schläfe quillt wie ein blauer Wurm auf, während ihm Tränen in die Augen steigen.
Ebba würde gern seine Hand halten, aber sie traut sich nicht, weil dadurch bestimmt alles noch schlimmer wird.
»Papa, wir haben nichts Böses gemacht, und Georg war auch nicht mit Absicht laut. Wir wissen doch, dass du beim Malen deine Ruhe brauchst«, versucht Rosie mal wieder zu vermitteln.
Die Augen des Vaters irren umher, dann beginnt er zu grinsen.
»Na schön«, brummt er. »Ihr könnt es wiedergutmachen. Die Kirschen sind reif.«
Rosie beginnt zu zittern. »Papa, bitte, nein! Ich fall bestimmt runter.«
»Georg wird dafür sorgen, dass dir nichts geschieht.«
Es dauerte eine Weile, bis Ebba begriff, dass jemand schrie.
»Hör auf! Aufhören, bitte! Ebba, um Himmels willen!«
Rosie krümmte sich in ihrem Sessel, ihre Mutter stand mit betretenem Gesicht neben ihr, und Maria liefen die Tränen über die Wangen.
»Es wird Zeit, dass Maria es erfährt.«
Aufgebracht schnaubte Rosie: »Wozu soll das gut sein? Das sind alte Geschichten, die zu nichts führen. Es ist auÃerdem meine Geschichte, und ich will nicht, dass du sie erzählst.«
»Schluss jetzt, Kinder, ich kann diese Schauermärchen nicht mit anhören. Das kann so nicht gewesen sein. Bruno war kein schlechter Mensch, nur ein wenig unbeherrscht. Er hat euch nie so behandelt, wie du ihm das jetzt unterstellst, Elisabetha.«
Ebba vergaà ihre mühsam antrainierte Selbstbeherrschung.
»Ach ja? Kein schlechter Mensch? Mama, wie lange willst du dich noch selbst belügen? Woher willst du wissen, dass er uns nie etwas getan hat? Du warst doch ständig in der Kirche!«
Sie würgte, als müsse sie an dem Wort Kirche ersticken. Wie sehr hatte sie dieses Wort früher gehasst! Es stand sinnbildlich für dieses jämmerliche, traurige, Angst einflöÃende Alleingelassenwerden. Im Stich gelassen werden traf es noch besser. Ja, genauso hatte sie sich gefühlt, wenn ihre Mutter das Gebetbuch nahm und in die schwarzen Schuhe schlüpfte, um zum täglichen Kirchgang aufzubrechen, der Stunden um Stunden dauerte. Im Rückblick kam es ihr vor, als habe ihre Mutter zwischen Frühstück und Nachtgebet nichts anderes getan, als
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