Im Dunkel der Schuld
Radio abspielte und dazu Landschaften malte, die es in Wirklichkeit gar nicht geben konnte, so geheimnisvoll und farbenprächtig waren sie. Sie glichen japanischen Stillleben, zeigten Berge, Wasserfälle, kleine Farbtupfer, von denen man nicht wusste, ob sie Menschen oder Blumen darstellten, wolkige Himmel, in denen einarmige kleine Männer schwebten.
Immer öfter zog es sie zu ihm und zu seinen Geschichten, die in ihrer Poesie den Bildern nicht nachstanden.
»Mama, ich bitte dich. Wann soll das gewesen sein? So schnell kann sich ein Mensch nicht zum Negativen ändern. Du hast ihn so rosig sehen wollen, stimmtâs?«
»Glaubt mir bitte, er war wirklich anders. Gut, er hat immer schon getrunken, aber nicht so viel wie später.«
Jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart. Oder hatte Elisabetha recht? Verklärte sie ihn? Es gab ja auch damals schon die dunklen, brutalen Seiten an ihm, die fordernden, dominierenden, keinen Widerspruch duldenden. Wie zum Beispiel an jenem Abend, als sie ihre Unschuld verlor. Aber das würde sie ihren Kindern nicht offenbaren, diese Erinnerung gehörte nur ihr allein.
Obwohl ihr Vater ihr den Umgang mit Bruno längst verboten hatte â oder vielleicht gerade deswegen â, war sie an jenem Abend zu ihm geschlichen. Es war eine warme Sommernacht. Das Glitzern in seinen Augen, mit dem er sie im Schein der kleinen Ãllampe von Kopf bis Fuà angesehen hatte und das später zum Alarmzeichen für sie wurde, war ihr betörend männlich vorgekommen. Ja, hier war ein anziehender erwachsener Mann, der sie, die kleine, schüchterne, unscheinbare Frieda Hansen, begehrte. Ein Schauer erfasste sie, als er ihre Hand nahm und mit seinen harten Fingern von der Handinnenfläche über die empfindliche Ellbogenbeuge zur Achselhöhle und dann fordernder an ihre Brust strich, wie er zudrückte, bis sie erschrocken und vor Schmerz aufschrie, wie das Glitzern in seinen Augen zunahm, er noch einen Schluck aus der Weinflasche trank und sie dann an sich zog, kompromisslos, sodass Gegenwehr auÃer Frage stand. Wie er seinen harten Mund auf den ihren presste, wie eine Hand ihren Kopf festhielt, während die andere ihr das Kleid erst aufknöpfte, dann mit einem Ruck aufriss, wie seine Hand ihre Unterwäsche beiseiteschob, sich ihren Weg bahnte, bis sie wieder vor Schmerzen aufschrie, wie er ihr befahl, still zu sein, um den Vater nicht zu wecken, wie er sie ins Gras legte, nein, warf, wie er sich über sie legte, sie mit seinem Gewicht fast erstickte, und sie dann immer gewalttätiger kniff und presste und kratzte, sie auf den Bauch drehte, ihr den Mund zuhielt und in sie eindrang, kurz, heftig, rücksichtslos. Wie er danach wortlos aufstand, die Hose schloss, die Weinflasche griff und zur Treppe zu seinem Zimmer ging, sie mit dem gleichen leeren Gesichtsausdruck wie ihr Vater liegen lieà wie ein Stück â¦
Frieda erschrak, als sie sich selbst stöhnen hörte, und sie zwang sich zurück in die Gegenwart, in der drei Augenpaare sie erschrocken anstarrten.
»Nein, wirklich«, beeilte sie sich, die anderen mit einem Lächeln zu beschwichtigen. »Er war früher anders. Da gab es noch keinen Schnaps. Ja, ich glaube immer noch, dass nur der Alkohol ihn so verwandelt hat.«
»Sag bitte nicht, dass er keine Schuld hatte â alles, aber das bitte nicht.«
Woher hatte Elisabetha nur diesen scharfen Verstand und diese Kämpfernatur?
»Wie auch immer â wir kamen uns näher, und ich wurde schwanger. Alles hätte schön werden können, aber mein Vater â¦Â«
Schon wieder musste sie eine Pause einlegen.
»Wir brauchten damals seine Einwilligung zur Hochzeit, denn ich war mit zwanzig noch nicht volljährig. Er war entsetzt, als er hörte, dass es nichts mehr zu diskutieren gab, weil Georg unterwegs war. Er richtete uns eine groÃe Feier aus, aber gleich danach starb er.«
Mit Tränen in den Augen sprang Rosie auf. »Oh, wie furchtbar für dich! Es war bestimmt das Herz wie bei Georg, oder?«
Frieda zögerte. Sie durfte nicht lügen, aber die ganze Wahrheit wollte sie ihren Kindern nicht zumuten. Sie ignorierte also Rosies Frage und fuhr möglichst ausdruckslos fort: »Der Rest ist schnell erzählt. Bruno erbte als mein Mann alles, das war damals noch so. Er verkaufte die Fabrik und kaufte uns das Haus in Baden-Baden. Er war mit meinem Vater öfter hier gewesen, und es hatte
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