Im Dunkel der Schuld
Nirgends hatte sie in ihrer eigenen Wohnung mehr einen Ort, der ihr ganz allein gehörte.
Das hatten sie früher einmal anders vereinbart: Sogar seine Zahnbürste sollte er eigentlich jeden Morgen mitnehmen, hatten sie ausgemacht. Früher. Eigentlich. Inzwischen war es unübersehbar, dass er mehr Nächte bei ihr als in seinen eigenen vier Wänden verbrachte. Was hauptsächlich daran lag, dass sich Ebba bei ihm in der mit Plüsch, Antiquitäten und alten Familienfotos vollgestopften Drei-Zimmer-Wohnung, in der auÃerdem jederzeit seine Tochter auftauchen konnte, nicht wohl fühlte. Fast vierzehn war Lisa jetzt, eigenwillig und beneidenswert offen und fröhlich, auch wenn sie wohl beschlossen hatte, die Geliebte ihres Vaters zu ignorieren.
Ebba schnürte es den Hals zu. Jörg war wirklich zauberhaft, aber inzwischen wurde ihr die Beziehung zu eng, zu selbstverständlich, zu alltäglich. Warum nur hatte sie sich darauf eingelassen, dass er sich über die Feiertage bei ihr einnistete, sogar heute, als sie gar nicht da gewesen war? Wie herrlich wäre es, jetzt in eine leere, aufgeräumte Wohnung zu kommen, sich wortlos und spontan mitten in der Nacht in die Badewanne legen zu können und ungestört vor sich hin zu sinnieren und zu verarbeiten, was vorhin in Freiburg auf sie eingestürmt war. Sie machte sich schreckliche Sorgen um ihre Mutter, aber das Allerletzte, was sie jetzt wollte, war, diese Sorgen mit Jörg zu teilen. Jörg sollte für die schöne Seite des Lebens stehen. Dunkle Familiengeschichten machte sie besser mit sich allein aus.
»Erzähl doch, wie ist es gelaufen? Wie geht es deiner Mutter?«, drängte Jörg, strampelte die Flauschdecke fort und setzte sich auf. Er fuhr sich durch die halblangen schwarzen Locken. Er war bestimmt der attraktivste, klügste, humorvollste und zärtlichste Mann auf der Welt, jeder Tag mit ihm war einmalig. Aber heute, jetzt und hier, hätte sie ihn am liebsten weggebeamt.
Was ging es ihn an, wie der Weihnachtstag in Freiburg gewesen war?
»Nicht gut«, murmelte sie und lief an ihm vorbei ins Schlafzimmer, zog sich aus und ging zur Badewanne, um das Wasser einzulassen. Schon stand er hinter ihr, umarmte sie, küsste ihr den Nacken, und Ebba musste sich zusammennehmen, um ihn nicht mit einem gezielten Griff abzuwehren.
Sie machte sich los, und es war ihr schon zu viel, ihm nun erklären zu müssen, dass sie â zumindest für den Rest der Nacht â allein sein wollte. Es war unfair, das wusste sie selbst. Immerhin hatte Jörg ihr eigentlich über Weihnachten eine gemeinsame Wellnesswoche in einem Luxushotel in der Schweiz geschenkt und das Ganze wegen ihr und ihrer Familie so kurzfristig absagen müssen, dass er auf den enormen Stornokosten sitzen geblieben war.
Dabei war nach dem grauenhaften letzten Weihnachtstreffen in Freiburg ausgemacht worden, dass es gemeinsam verbrachte Festtage in der Restfamilie Seidel nicht mehr geben sollte. Ohne Georg und Maria hatten sich Ebba und Rosie in der Wohnung ihrer Mutter im vergangenen Jahr extrem unwohl gefühlt, zumal ihre Mutter noch später als üblich von ihrem Betkreis heimgekehrt war. Gerade mal zwei Stunden hatten sie miteinander verlebt, und auch die waren von Anspannung und Tränen geprägt gewesen. Die Trauer um Georg war noch zu frisch und steigerte den BüÃergedanken ihrer Mutter ins Unerträgliche.
Keine Treffen mehr an Weihnachten, hatten Rosie und Ebba daraufhin beschlossen, und ihre Mutter hatte erleichtert zugestimmt. Wahrscheinlich hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre, die Betrunde nun nicht mehr vorzeitig verlassen zu müssen, nur um ihre Töchter zu sehen.
Doch dann war alles anders gekommen. Als Ebba anrief, um sich in den Weihnachtsurlaub mit Jörg zu verabschieden, hatte Frieda Seidel einen Heulkrampf bekommen und nicht mehr aufhören können.
»Aber du betest doch eh lieber«, hatte Ebba ihr hilflos entgegengehalten. Das Weinen am anderen Ende war noch heftiger geworden, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als alle Pläne über den Haufen zu werfen, Rosie zu überreden, ebenfalls zu kommen, und sich schlieÃlich wie üblich am ersten Feiertag in ihr Cabrio zu setzen und nach Freiburg zu fahren.
Ebba war erschrocken, als sie ihre Mutter blass, mit trockenen Lippen, stumpfen Haaren und trüben, rot geweinten Augen vor sich sah. Keine Spur von der beherrschten,
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