Im Dunkel der Schuld
sie noch erhörte. Sie würde eine Kerze anzünden und sich in seine Hand begeben. Ja.
Hastig bekreuzigte sie sich, schlüpfte in ihren Wintermantel und eilte aus der Wohnung, ohne ihr ÃuÃeres noch einmal im Spiegel überprüft zu haben. Sie wusste auch so, dass sie zum Erbarmen aussah. Sie hatte es Weihnachten in Elisabethas Augen gesehen und sich geschämt. Aber wie konnte man sich elegant kleiden, wenn man in der Seele fror?
Vor dem Eingangsportal begann ihr Herz zu klopfen. Freudige Erwartung oder schreckliche Angst? Sie zögerte, lieà ihre Hand über der massiven Metallklinke schweben, dann drückte sie sie nieder und zog die Tür auf. Weihrauch, Orgelklänge, vertrautes Stimmengemurmel aus der Nische, in der sich der Versammlungsraum befand. Auf Zehenspitzen huschte Frieda an der halb geöffneten Tür vorbei und bildete sich ein, dass die Stimmen für einen Moment innehielten, als habe man sie entdeckt. Doch das konnte nicht sein, sie hielt sich weit entfernt, im dämmrigen Teil des Mittelgangs.
»Vernimm doch mein Flehen, denn ich bin arm und elend«, schoss es ihr wieder durch den Kopf, dann hatte sie den Seitenaltar mit den Kerzen erreicht. Gedämpft klickte ihr Geldstück im Opferkasten, sie nahm eine Kerze und hielt den noch weiÃen Docht in die Flamme einer anderen.
Ein zaghaftes Züngeln, dann erlosch die kleine Flamme, und die der Spenderkerze auch.
Frieda bekreuzigte sich.
»Herr, ich rufe zu dir. Eile mir zu Hilfe; höre auf meine Stimme, wenn ich zu dir rufe. Wie ein Rauchopfer steige mein Gebet vor dir auf; als Abendopfer gelte ich vor dir, wenn ich meine Hände erhebe â¦Â«
Schwere Schritte kamen näher, verharrten, dann umhüllte sie der vertraute Geruch nach Pfeifentabak und saurem Wein.
Frieda beugte sich tiefer über die gefalteten Hände, die immer noch die dünne Kerze umschlossen.
»Komm, Tröster, der die Herzen lenkt, du Beistand, den der Vater schenkt; aus dir strömt Leben, Licht und Glut, du gibst uns Schwachen Kraft und Mut«, flehte sie halblaut.
»Amen«, erwiderte Pfarrer Claus, und seine breite Hand legte sich auf ihre dünnen, kalten Finger. Ruhig nahm er ihr die Kerze ab, zündete sie an und steckte sie in das Meer der Flammen.
Dann fasste er sie am Arm. »Wir sollten miteinander reden«, sagte er. »Komm mit mir nach drauÃen, lass uns ein paar Schritte gehen.«
Frieda schluckte schwer. Er führte sie aus der Kirche? War sie hier wirklich nicht mehr willkommen? Aber hieà es nicht, dass Gott jedem half, wenn er nur ehrlich bereute?
Verwirrt folgte sie ihm durch das Portal hinaus. Er lenkte sie zum Pfarrhaus nebenan, in sein Arbeitszimmer, wo er sich an einer kleinen Kaffeemaschine zu schaffen machte.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Frieda«, begann er. »Auch deine Tochter Ebba hat kürzlich angerufen und mich um Rat gefragt, wie man dir helfen kann. Du wendest dich von uns ab. Ich habe das Gefühl, du bist auf dem falschen Weg. Du gehst verloren, wenn du ihn weiter beschreitest.«
»Aber es ist doch umgekehrt!«
»Beichte, Frieda, erleichtere dich. Dann wird es dir besser gehen.«
Frieda setzte sich an das niedrige Besprechungstischchen und betrachtete den Pfarrer, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Er war groà und stattlich, seine glatten Wangen glänzten rosig. Man sah ihm an, dass er die badische Küche liebte. Seine fast schwarzen Augen konnten gütig blicken, sie konnten sich aber auch auf den Grund der Seele bohren. So wie jetzt.
Sie zog ihren Mantel fester um sich und schob die Kaffeetasse unberührt fort.
»Das mit dem Müsli«, begann sie. »Ich kann nichts dafür. Ich habe die gleichen Zutaten wie immer genommen.«
Sein Blick bohrte sich tiefer in sie hinein, aber sie würde nicht sagen, dass sie ein neues Gewürz ausprobiert hatte. Das konnte nicht der Grund gewesen sein, warum so vielen Menschen übel wurde. Es war doch nur eine Prise gewesen, und sie hatte es aus vertrauenswürdiger Quelle erhalten, vom einzigen Menschen, der ihr seit einiger Zeit zuverlässig half und auch jetzt noch zu ihr hielt.
»Es geht nicht um die Sache mit der Vergiftung.«
»Vergiftung?«
»Wie soll man es sonst nennen, wenn über zwanzig Personen mit einem Male Unwohlsein packt, wenn sie an Durchfall und Erbrechen leiden, wenn zwei von ihnen sich sogar mit Kreislaufbeschwerden ins Krankenhaus
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