Im Dunkel der Schuld
verzeih uns unsere Sünden! Bewahre uns vor dem Feuer der Hölle! Führe alle Seelen in den Himmel, besonders jene, die deiner Barmherzigkeit am meisten bedürfen.«
Wenn sie nur inbrünstig genug um ihren Seelenfrieden bat, würde das Brennen ihrer Schuld nachlassen. So war es immer gewesen, von jeher. Es gab keinen Grund, daran zu zweifeln, denn das hieÃe ja, an Gott zu zweifeln. Und Gottes Erbarmen war grenzenlos.
Warum nur hatte er ihr diese Prüfung auferlegt? Sie hatte doch bereut, jeden Tag, hatte BuÃe getan, wo immer es nur ging. Sie hatte gebetet, sich auf Wallfahrten die Knie aufgescheuert. Die letzten Jahre hatte es auch ganz danach ausgesehen, als habe Gott ihr verziehen, auch wenn sie sich selbst niemals verzeihen würde. Er hatte es gut mit ihr gemeint, hatte ihr eine neue Heimat gegeben, hatte ihr helfende Hände zur Seite gestellt. Sie hatte sich aufgehoben gefühlt im Betkreis. Sie hatte gedacht, nein, sich inbrünstig gewünscht, sie sei â zumindest auf Erden â davongekommen.
Falsch, falsch. Es war wohl Teil der Prüfung gewesen, sich zwischen ihren Mitschwestern und Mitbrüdern wie in einer neuen Familie zu fühlen. Sie hatte gehofft, alles abstreifen zu können, nur die Zusammenkünfte mit ihren Kindern hatten ihr jedes Jahr aufs Neue aufgezeigt, dass alles ein Trugschluss war, dass sie ihre Schuld nicht tilgen konnte.
Dann war zuerst Georg gestorben, danach hatte das Unheil in ihrem eigenen Umfeld begonnen, leise, schleichend, wie Radioaktivität, die man nicht sah, nicht fühlte, nicht schmeckte, nicht roch. Aber sie war da, vergiftete die Blicke ihrer Vertrauten, die ihr plötzlich auswichen, deren Augen über sie hinweg irrlichterten, wenn sie sie direkt ansehen wollte. Es war etwas im Gange, das sie nicht fassen konnte.
»Gott, sei mir gnädig nach deiner Güte, und tilge meine Sünden nach deiner groÃen Barmherzigkeit. Wasche mich rein von meiner Missetat, und reinige mich von meiner Sünde â¦Â«
Die vertrauten Glocken begannen zu läuten, und ihr schossen Tränen in die Augen. Sie war so einsam, so verlassen! Was sollte sie bloà tun?
Oder bildete sie sich alles nur ein vor lauter schlechtem Gewissen? Niemandem hatte sie ihre Sünden kundgetan, selbst im Beichtstuhl war ihr Mund verschlossen gewesen. Also konnte auch niemand wissen, was sie getan hatte. Sie und die Kinder. Eigentlich mehr die Kinder. Elisabetha im Besonderen. Aber sie hatte mitgemacht, hatte nichts unternommen, um das Unheil abzuwenden, hatte gebetet, statt einzugreifen.
»Mea culpa, mea culpa â¦Â«
Sosehr sie sich auch an die Brust klopfte â nichts tat sich, nichts löste den Knoten in ihrem Innern, der immer stärker und schwerer wurde.
Heute war Mariä Lichtmess. Der Tag, an dem man die Kerzen weihte. Es war traditionell eine ergreifende, andächtige Zeremonie. Ob sie es wagen sollte, sich hinzuzugesellen? Sie konnte sich vielleicht unbemerkt ganz hinten in die letzte Reihe setzen.
Aber wenn der Herr Pfarrer sie entdeckte? Er sah neuerdings ebenfalls durch sie hindurch, seit der Sache mit dem selbst gemachten, mit einer neuen Gewürzmischung verfeinerten Müsli beim Adventsfrühstück, nach dem es allen schlecht geworden war auÃer ihr, weil sie an diesem Tag nichts davon gegessen hatte. Der reine Zufall, aber es hatte ihr niemand geglaubt.
Es hatte das Fass zum Ãberlaufen gebracht. Seitdem war sie nicht mehr in der Kirche gewesen.
Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass sie dem Haus Gottes über einen so langen Zeitraum fernblieb. Es hätte auch nichts genutzt, sich in eine andere Kirche oder Kapelle zu schleichen, denn sie fühlte sich nirgends mehr willkommen, es war ihr, als habe Gott sie nach all den Jahren zwischen all den Gebeten, die sie gen Himmel geschickt hatte, entdeckt und sich von ihr abgewandt.
»Mit lauter Stimme schrei ich zum Herrn, laut flehe ich zum Herrn um Gnade. Ich schütte vor ihm meine Klagen aus, eröffne ihm meine Not. Wenn auch mein Geist in mir verzagt, du kennst meinen Pfad. Auf dem Weg, den ich gehe, legten sie mir Schlingen â¦Â« Ihre Stimme machte nicht mehr mit, sie erstickte in all den ungeweinten Tränen, die ihr in den Hals stiegen. »⦠Vernimm doch mein Flehen, denn ich bin arm und elend«, brachte sie noch heraus, dann verstummte sie.
So konnte sie nicht weiterleben. Sie musste Gewissheit haben, ob Gott
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