Im Dunkel der Schuld
Bürokratismus aufhören. Es war kein Selbstmordversuch. Das kann nicht sein. Eine solche Annahme ist lächerlich. Meine Mutter ist viel zu gläubig, um sich umbringen zu wollen oder es zu können.«
Die Polizistin hob eine Augenbraue und machte sich schweigend Notizen, sodass Ebba sich noch schuldiger vorkam.
»Fragen Sie Pfarrer Claus, der wird Ihnen bestätigen, dass meine Mutter niemals im Leben â¦Â«
»Herr Claus hat seine Aussage bereits zu Protokoll gegeben. Sie sollen vor drei Wochen geäuÃert haben, sich zeitnah mit Ihrer Mutter in Verbindung setzen zu wollen. Jetzt sagen Sie aus, Sie hätten Ihre Mutter zuletzt an Weihnachten gesehen.«
»Ich muss mir das nicht gefallen lassen. Hören Sie, es kann nicht den geringsten Zweifel geben, dass meine Mutter nur einen Schwächeanfall gehabt hat. Alles andere schlieÃe ich definitiv aus.«
Wieder hob sich die Augenbraue. »Besitzen Sie einen Schlüssel zur Wohnung?«
»Nein. Ich â¦Â«
»Kennen Sie jemanden, der einen besitzen könnte?«
»Meine Schwester Rosie vielleicht, aber die lebt in Norddeutschland.«
»Rosie und wie weiter? Den vollständigen Namen und ihre Adresse, bitte.«
Verwirrt gab Ebba alles zu Protokoll, dann schob die Beamtin ihr ein Blatt Papier zu, auf dem eine angefangene Zeile stand.
»Es tut mir leid« â und dann ein langer Strich.
»Ist das die Schrift Ihrer Mutter?«
»Nein. Sie hat nie so gekrakelt.«
»Sehen Sie genau hin. Können Sie trotzdem etwas Charakteristisches erkennen?«
»Das geschwungene E â aber das sagt doch nichts.«
Die Beamtin hob zwei Plastiktütchen hoch. »Diesen Stift hatte sie noch in der Hand, als wir sie fanden.«
»Den hat Rosie ihr zu Weihnachten â¦Â«
»Und das lag auf dem Tisch neben dem Brief und einem leeren Trinkbecher.«
Ebba nahm ihr das zweite Tütchen aus der Hand. Eine Tablettenschachtel und eine Folienpackung, bei der alle Felder leer waren.
»Ein starkes Schlafmittel«, erklärte die Polizistin. »Wer war der Hausarzt Ihrer Mutter?«
Schlafmittel? Da stimmte doch etwas nicht! Ebba schüttelte den Kopf. »Solange ich lebe, hat meine Mutter keine Chemie angerührt oder freiwillig einen Arzt konsultiert. Ich verstehe das nicht. Die Tabletten können nicht von ihr sein.«
Wieder diese Augenbraue.
»Pfarrer Claus hat uns heute um elf Uhr achtundzwanzig alarmiert, weil wiederum er einen vertraulichen Hinweis erhalten hatte, dass sich Ihre Mutter vielleicht etwas angetan haben könnte. Er selbst habe sie gestern noch gesprochen, gibt er an. Während der Unterredung habe sie verwirrt gewirkt. Sie hätten vor Kurzem ihm gegenüber ebenfalls geäuÃert, dass Sie sich Sorgen machten, weil Ihre Mutter in den letzten Wochen und Monaten depressiv gewesen sei und es Anzeichen gab, dass sie stark vereinsamte, behauptet er. Stimmt das?«
»Ja, schon.«
»Als Sie das letzte Mal mit ihr telefoniert haben, war sie da verändert?«
Ebba erinnerte sich an den Sonntagnachmittag vor vier Wochen. Jörg war bei ihr gewesen, hatte dicht neben ihr auf der Couch gesessen und liebevoll an ihrem Ohrläppchen geknabbert, während im anderen Ohr die klagende Stimme ihrer Mutter zu hören war. Was hatte sie nur gesagt? Natürlich war es wieder einmal darum gegangen, dass Frieda Seidel etwas »nicht konnte«. Aber was?
Ebba schämte sich, weil sie das Telefonat nur nebenbei geführt hatte, wo doch jetzt klar wurde, dass ihre Mutter in Not gewesen war. Sie hatte es nicht herausgehört, hatte ihre Ohren auf »Durchzug« gestellt, weil sie diese ewige Leier des »Ich kann nicht« nicht hatte ertragen können, oder besser gesagt, nicht mehr hatte ertragen wollen. Ihr ganzes Leben hatte dieser Satz sie begleitet, und sie hatte irgendwann nur noch die Botschaft hinter diesem Satz vernommen: »Hilf dir selbst, verlass dich auf niemanden.«
Trotzdem hätte sie ihrer Mutter besser zuhören sollen. Ihre Stimme war brüchig gewesen, aber das hatte Ebba auf ihre Trauer um Georg geschoben, dessen Tod Frieda nicht verarbeiten konnte oder wollte. Je länger das Ereignis zurücklag, umso mehr wurde ihr Bruder verherrlicht, sowohl von der Mutter als auch von Rosie.
Allein die Erwähnung seines Namens machte Ebba inzwischen wütend. Er war nicht der strahlende Held gewesen, der sich für alle eingesetzt hatte. Ein
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