Im Dunkel der Schuld
Angsthase war er gewesen, der sich hinter pingeligen Regeln verschanzte, statt sein Trauma aufzuarbeiten. Natürlich war ihr klar, dass auch er das Opfer des übermächtigen Vaters gewesen war, aber irgendwann war doch mal Schluss mit der Vergangenheit! Man durfte nicht ewig herumjammern, dass man eine schreckliche Kindheit gehabt und deshalb einen Schaden davongetragen hatte. Wenn man es erkannte, konnte man es bekämpfen. Sie als die Jüngste hatte es auch geschafft!
Das Seufzen der Polizeibeamtin brachte sie in die Gegenwart zurück.
»Wir haben Anfang Januar miteinander gesprochen, und da hatte sie tatsächlich etwas bedrückt geklungen. Aber sie hat nichts Konkretes gesagt, nur allgemein herumgejammert.«
»Trotzdem haben Sie danach Pfarrer Claus kontaktiert?«
»Ich hoffte, er würde mir einen Hinweis geben können, wie man ihr vielleicht helfen könnte, na ja â¦Â«
Sie hatte ihre Mutter wirklich besuchen wollen, aber dann hatte sie unbedingt für drei Tage auf die baden-württembergische Künstlermesse in Stuttgart fahren müssen, die danach wiederum zeitnah aufgearbeitet werden musste.
»Ich würde jetzt gern ins Krankenhaus fahren.«
Die Polizistin zögerte, dann nickte sie. »In Ordnung. Kommen Sie morgen wieder hier vorbei, und unterschreiben Sie das Protokoll. Ich werde bis dahin den Becher und die Tablettenschachtel auf Fingerabdrücke untersuchen lassen, dann sehen wir weiter. Die Wohnung Ihrer Mutter bleibt bis auf Weiteres versiegelt. Wir sagen Ihnen Bescheid, wann Sie die Wohnung betreten dürfen.«
»Was wollen Sie damit andeuten?«
»Wir haben ermittelt, dass Frieda Seidel ein beträchtliches Vermögen besitzt, das im Todesfall an Sie und Ihre Schwester fallen wird.«
Ebba bekam keine Luft mehr. »Sie â Sie unterstellen jetzt aber nicht, dass es sich hier um versuchten Mord handelt, oder?«
»Ich unterstelle gar nichts. Ich ermittele, halte die Ergebnisse fest und ziehe daraus meine Schlüsse. Bitte reisen Sie für die nächste Zeit nicht auÃer Landes.«
Das Ergebnis kam rasch und war eindeutig. In Frieda Seidels Magen und Blut war eine groÃe Konzentration eines Schlafmittels gefunden worden, das besonders schnell und stark gewirkt hatte, weil sie seit mehr als einem Tag nichts mehr gegessen hatte. Zwar hatte man nicht herausfinden können, wer ihr das Rezept für das verschreibungspflichtige Medikament ausgestellt hatte, aber auf der Packung und dem Becher waren allein ihre Fingerabdrücke gewesen. Auch hatte es weder Einbruchspuren gegeben, noch fehlte der Wohnungsschlüssel. Den Rest würde eine endgültige Befragung ergeben, wenn sie aufwachte. Ebba fühlte sich von jeglichem Verdacht erlöst.
Trotzdem war sie mit der Diagnose und Schlussfolgerung nicht zufrieden, und auch Rosie drängte sie in abendlichen Telefonaten, intensiver nach anderen Erklärungen zu suchen. Die Wohnungsnachbarn der Mutter taten so, als hätten sie Frieda Seidel nie richtig bemerkt; sie wollten mit den Vorkommnissen nichts zu tun haben. Dass die Polizei im Haus gewesen und die Tür hatte aufbrechen lassen, war schon schlimm genug. Manche versuchten sich zu entschuldigen, weil sie sich so wenig für Frieda interessiert hatten, andere reagierten völlig gleichgültig, als hätten sie ihre Nachbarin nie gesehen â was Ebba sogar in gewisser Weise glaubwürdig fand.
Leider kam sie auch bei den Mitgliedern des Betkreises nicht weiter, im Gegenteil. Es herrschte eine merkwürdige Stimmung, als sie sie während einer gemeinsamen Frühstücksrunde aufsuchte. Man wich ihr aus, blickte zu Boden, druckste herum. Und das sollte die Ersatzfamilie ihrer Mutter gewesen sein? Ebba bohrte weiter. Irgendwann bekam sie heraus, dass es ein regelrechtes Mobbing gegen ihre Mutter gegeben hatte, dass aber auch Frieda offenbar nicht ganz unschuldig daran gewesen war. Ebba schwankte zwischen ungläubigem Lachen und Zorn, als man ihr Näheres über den »Vorfall« verriet. Ihre Mutter sollte versucht haben, ihre engsten Vertrauten, ihre Pseudo-Familie, zu vergiften? Diese Unterstellung war eine ungeheuerliche, böswillige Verleumdung! Dabei blieb sie auch nach einem weiteren Gespräch mit dem Pfarrer, dem sie ebenfalls nicht so recht über den Weg traute. Irgendetwas verheimlichte er ihr, das spürte sie deutlich. Manchmal durchbohrte sie sein stechender Blick, dann wieder
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