Im Dunkel der Schuld
wich er ihr aus, als habe er selbst ein schlechtes Gewissen oder als gäbe es etwas zu sagen, das er trotzdem lieber für sich behielt. Ebba kam einfach nicht dahinter, was da unterschwellig noch brodelte.
Irgendwann gab sie es auf, im Ungewissen herumzustochern. Bestimmt konnte ihre Mutter alles erklären, wenn sie wieder zu sich kam. Trotzdem nagte der Gedanke an ihr, wie wenig sie und Rosie ihre Mutter eigentlich gekannt hatten. Auf der einen Seite war es verständlich: Ihre Mutter war ja nie für sie da gewesen. Sie hatte sie nie beschützt, ihnen keinen Halt gegeben, nie hinter ihnen gestanden und sie ermutigt. Andererseits war es angesichts der dramatischen Ereignisse nur wenig entschuldbar, dass sie und Rosie sich nicht mehr um ihre Mutter gekümmert hatten. Sie waren doch inzwischen erwachsen. Sie hätten hinterfragen können, woher diese Zurückhaltung der Mutter wirklich kam, warum sie ständig gebetet hatte, sie ihre Kinder nicht vor ihrem Mann geschützt hatte, ob es vielleicht mit einem schlimmen Trauma aus ihrer eigenen Vergangenheit zusammenhing und sie eigentlich Hilfe gebraucht hätte. Stattdessen war sie ihnen über die Jahre gleichgültig geworden, sie hatten ihren Hass und ihre Verzweiflung gegenüber dieser Frau tief in sich vergraben und eine groÃe Gleichgültigkeit wie einen Schutzpanzer um sich gelegt. Nur so war zu erklären, dass sie sich auch angesichts der Warnzeichen in der jüngsten Vergangenheit nicht ernsthaft gefragt hatten, ob diese Bet-Leidenschaft, auf die sie immer so eifersüchtig gewesen waren, inzwischen so exzessiv geworden war, dass ihre Mutter jegliche anderen sozialen Kontakte verloren hatte. Nur deshalb hatte es wahrscheinlich geschehen können, dass Frieda in einen Abgrund stürzte, als ihr dieser Halt verloren ging.
Das mit dieser angeblichen Vergiftung konnte doch nur ein Versehen gewesen sein. Aber was wusste sie schon von ihrer Mutter? Nichts! Und genau diese Erkenntnis, absolut nichts von ihren Gefühlen und Gedanken zu kennen, lieà Ebba schlieÃlich das Ergebnis der Polizei akzeptieren, dass es ein Selbstmordversuch gewesen war.
Letzte Klarheit würde sie bekommen, wenn ihre Mutter wach wurde.
Aber Frieda wachte nicht auf. Sie hatte sich im Krankenhaus eine Lungenentzündung zugezogen. Man gab ihr Antibiotika und stabilisierte ihr angegriffenes Herz. Tagsüber sah es so aus, als habe sie das Schlimmste überstanden, zur Nacht hin allerdings verschlechterte sich ihr Zustand stets, ohne dass die Ãrzte einen Grund dafür erkennen konnten. Abwarten, war ihre Devise, kein Grund zur Panik.
Frieda war inzwischen aus dem Intensivbereich auf die normale Krankenstation gebracht worden, und da lag sie nun, klein, blass, reglos, an einen Tropf angeschlossen. Nicht das leiseste Zucken ihrer Augenlider war zu erkennen, kein Kräuseln ihrer Lippen, gleichgültig, was Ebba auch anstellte, um sie zum Lachen oder wenigstens zum Aufwachen zu bewegen.
Es war zwar ein weiter Weg, aber sie fuhr schon allein, um ihr Gewissen zu beruhigen, jeden Abend nach Geschäftsschluss nach Freiburg und sah nach der Kranken, und manchmal schien es ihrer Mutter besser zu gehen. Dann wieder wurde ihr Zustand unerklärlicherweise über Nacht schlimmer. War sie etwa daran schuld? Regte ihre bloÃe Anwesenheit die Mutter dermaÃen auf, dass sie tiefer und tiefer in die Bewusstlosigkeit rutschte? Aber warum? Sie hatte ihr doch nie etwas getan, im Gegenteil, sie war es doch gewesen, die die Rolle der Mutter in der Familie übernommen hatte, sobald es ihr vom Alter her möglich war.
Während Frieda unsichtbar war, weil sie in der Kirche kniete, hatte sie versucht, den Vater bei Laune zu halten, hatte â zugegebenermaÃen â auch sorglose und schöne Stunden in seinem Atelier verbracht, wenn er nüchtern war. Er hatte sie in die Welt der Kunst und der Malerei eingeführt, hatte sie allerdings auch spätnachts mit Stolz im Nachthemd seinen Kumpanen vorgeführt und sie ihr neu erworbenes Wissen vortragen lassen. Das hatte Ebba gehasst, es war ihr peinlich gewesen, sich so anstarren lassen zu müssen, aber sie hatte dieses Vorgeführtwerden klaglos ausgehalten. Sie war sogar stumm geblieben und hatte nicht einmal geweint, als er sie, weil sie irgendwann nicht Malerin sondern Balletttänzerin werden wollte, zur Strafe stundenlang im Atelier auf Zehenspitzen stehen und trippeln lieÃ, bis ihre
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