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Im Dunkel der Schuld

Im Dunkel der Schuld

Titel: Im Dunkel der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Hampp
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breitete die Frau ihre Arme aus, drückte Ebba fest an sich und ließ sie lange nicht mehr los.
    Sie bestand darauf, Ebba mit zu sich nach Hause zu nehmen, ins Gästezimmer, in dem sie keinesfalls stören würde. Im Gegenteil, keine von ihnen würde doch die kommende Nacht allein verbringen wollen, geschweige denn ein Auge schließen können. Abwehr ließ sie nicht zu, und auch nicht, dass Ebba am liebsten sofort mit Nachforschungen beginnen wollte. Sie zerrte Ebba, nachdem sie ihre kurze Aussage gemacht hatte, mit sich nach draußen, lud den Koffer auf den Gepäckträger und schob ihr Fahrrad durch den Schnee, während sie vorschlug, einen Abstecher zum »Eulennest« zu machen.
    Ebba hatte den Laden schon beim ersten und einzigen Besuch besichtigt und sofort gemocht, auch wenn sie persönlich zwischen den vollgestopften Regalen gleich Beklemmungen bekommen hatte. Er sah genauso heimelig aus, wie Bücherfreunde sich das wünschten: niedrige Decken, rote Klinker mit weißen Sprossenfenstern, aus denen nun warmes Licht auf den schneebedeckten Gehweg fiel. Drinnen liefen Männer in weißen Schutzanzügen zwischen den Regalen und Büchertischen herum, fotografierten, redeten, machten sich Notizen. In einer der beiden Auslagen waren Regionalkrimis aus Schleswig-Holstein dekoriert, in der anderen diverse Ratgeber und Selbsterfahrungsbücher über psychische Erkrankungen und Störungen.
    Â»Das neue Hobby der Chefin«, sagte Inken und deutete mit dem Kinn auf die Ratgeber. »Davon konnte sie gar nicht mehr genug bekommen. Hätte mich eigentlich stutzig machen sollen. Aber sie schien so normal zu sein.«
    Sie wischte sich mit dem dicken bunten Fäustling eine Haarsträhne aus dem Gesicht und lehnte das Fahrrad an die Mauer.
    Â»Wer hätte das auch ahnen sollen«, flüsterte sie.
    Ebba legte ihr die Hand auf die Schulter. »Niemand. Sie nicht – ich nicht. Sie wollte es nicht. So war sie. Niemandem zur Last fallen. Immer sollten alle gut von ihr denken. Niemals hätte sie es sich anmerken lassen, wie es wirklich um sie stand. Aber ich, ich hätte sie längst anrufen müssen. Vielleicht hat sie darauf gewartet. Ich habe mich noch nie an ihre Bitten gehalten. Nur dieses eine Mal, da wollte ich ihr den Gefallen tun. Ausgerechnet. Einmal wolle sie ihre eigenen Entscheidungen treffen, hat sie gesagt …«
    Â»Wenn ich jetzt zurückdenke, war sie in letzter Zeit doch anders als früher. Nervös und manchmal ein bisschen pampig, wenn man ihr persönliche Fragen stellte. Aber ich dachte, das käme vom Tod ihrer Mutter …«
    Was sollte man dazu sagen? Konnte das sein? Hatte Rosie ein anderes, besseres Verhältnis zur Mutter gehabt? Immerhin war sie Weihnachten jedes Mal über Nacht geblieben. Aber das sagte eigentlich nicht viel, weil die Mutter sicher beten gegangen war, sobald Georg und sie selbst die Wohnung verlassen hatten.
    Ebba betrachtete die ausgelegten Ratgebertitel. Es ging um unterschiedliche Themen, Schüchternheit, Essstörung, Alkoholsucht bis hin zum Burn-out. Die meisten Titel begannen mit »Wie überwinde ich …« oder »Wege zu …«. Nicht unbedingt das, was sie auf dem Nachttisch ihrer Schwester vermutet hätte. Wenn sie doch nur ins Haus könnte! Ohne etwas Konkretes zu sehen oder in Händen halten zu können, war es noch schwerer, sich vorzustellen, was Rosie getan hatte, und zu überlegen, was dazu geführt haben mochte.
    Â»Ratgeber für Trauerarbeit sind nicht dabei«, murmelte sie halblaut. »Und Höhenangst fehlt auch.«
    Â»Sie hat sich eine Reihe von Büchern mit nach Hause genommen. Aber ich habe nicht auf die Titel geachtet. Ich habe eigentlich auf gar nichts geachtet. Ich mache mir solche Vorwürfe!«
    Mit einem hilflosen Gesichtsausdruck bückte sich Inken, formte lose einen Schneeball und schleuderte ihn gegen die Scheibe eines auf der anderen Straßenseite geparkten Autos, wo er wie Puderzucker zerstob.
    Ebba sah in den dunklen Himmel, vor dem sich der angestrahlte Hauptturm des Doms zwar wie auf einem Postkartenidyll abhob, und dann die menschenleere Straße entlang. Was für ein trostloses Pflaster sich ihre Schwester als Fluchtpunkt ausgesucht hatte! Flucht, ja, das war es gewesen. Und trotzdem immer noch nicht weit genug entfernt. Nun hatte sie die letzte, endgültige Flucht ergriffen, die unumkehrbare. Nie wieder würden

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