Im Dunkel der Schuld
dass sie es auf den Schreibtisch legen musste, um es zu lesen.
»Liebe Ebba«, hatte Rosie mit Kugelschreiber oben auf das Blatt geschrieben, und es war eindeutig ihre Handschrift, genauso wie die Unterschrift und das Datum von gestern, der Rest war gedruckt.
»Wie oft stehen wir am Abgrund? Wie oft fürchten wir uns davor? Die Tiefe ruft und lockt. Noch schrecken wir zurück, weil wir Angst vor den Konsequenzen haben. Aber muss nicht auch jeder, der unter Depressionen leidet, irgendwann erkennen, dass sie eine Krankheit sind und behandelt gehören? Das ist es, was Menschen lernen müssen, die unter Höhenangst leiden. Und diese Zeilen sollen dabei helfen. In Babyschritten müssen wir uns dem Abgrund Millimeter für Millimeter nähern, uns darüber beugen, die Arme ausbreiten, damit wir endlich alles überwinden können: die Angst, vergangene Erlebnisse, Dinge, die man nicht tun und denken darf, die uns aber belasten, als seien sie erst gestern geschehen. Besonders nach dem Tod naher Angehöriger sehnt man sich nach Ruhe und Frieden, das habe ich am eigenen Leib erfahren. Ich habe einen Ausweg gefunden. Und ich hoffe so sehr, dass ich vielleicht als Vorbild anderen Menschen, die in ähnlichen Situationen sind, helfen kann. Ich möchte sie ermuntern, es mir gleichzutun. Es schmerzt nicht. Man muss sich nur seinen inneren Konflikten stellen, dann wird alles gut. Dann sieht man klar, was zu tun ist. Das ist allerdings sehr schwer. Man braucht viel Mut dazu.
Ich möchte alles richtig machen. Ich hoffe, ich schaffe es, und weiter hoffe ich, damit auch für meine Mitmenschen ein Zeichen zu setzen. Ich bin nicht mehr klein und ohnmäch tig, wenn ich etwas eigenverantwortlich entscheide und kom promisslos durchstehe. Bald, sehr bald schon, werde ich dafür mit innerer Ruhe belohnt werden, nach der ich mich von klein auf gesehnt habe und die mir bislang niemand geben konnte. Es gibt nur diesen einen Weg. Wir müssen ihn gehen. Nur wer bereit ist loszulassen, nur wer springt, kann auch seine Hindernisse überwinden.«
Handschriftlich hatte Rosie ein schwungvolles »In Liebe« und ihren Namen unter den Text gesetzt.
Ebba schluckte den Kloà herunter, der sich in ihrem Hals breitmachen wollte. Dies war das erste Mal, dass ihre Schwester ihr einen richtigen Brief geschrieben hatte. Sie hörte Rosies Stimme beim Lesen, ja genauso hatte sie geredet, vor allem, wenn â¦
»Das ist doch kein Abschiedsbrief. Für mich klingt es, als habe sie schreckliche Angst gehabt und diese Angst überwinden wollen. Niemals hätte sie sich wirklich hinuntergestürzt!«
Asmus tippte auf das Blatt Papier. »Und was ist das? âºNur wer springt, kann auch seine Hindernisse überwindenâ¹.«
Ebba hob die Schultern. Sie verstand gar nichts mehr, erst recht nicht diesen merkwürdigen, wirren Brief.
»Ist das ihre Unterschrift?«
Sie nickte unwillig.
»Wer hatte Zugang zu dem Haus in Arnis?«
Sie zuckte erneut mit den Schultern. »Inken Sörensen vielleicht?«
»Wer noch? Eine Putzfrau? Freunde, Verwandte in der Nähe? Besitzen Sie einen Schlüssel?«
»Ich? Nein. Warum auch? Wir haben uns nicht oft gesehen. Aber da war dieser Mann!«
»Welcher Mann?«
»Ich ⦠Keine Ahnung. Ein Arzt. Mehr weià ich nicht. Sie hat ihn nach der Beerdigung unserer Mutter im Zug kennengelernt.«
»Wann war das?«
»Vor zwei Jahren. Die Beerdigung war am 26. Februar. Einen Tag später ist sie nach Hause gefahren.«
»Was wissen Sie von ihm?«
»Nichts. Sie hat ihn nur einmal erwähnt und ihn dann vor mir verheimlicht. Sie hat später sogar abgestritten, dass es ihn gibt. Aber sie war oft tagelang nicht erreichbar. Einmal habe ich ihr auf den Kopf zugesagt, dass er wohl verheiratet ist. Da ist sie erschrocken und hat mich angefleht, dass niemand etwas wissen darf. Sie hat mich auf den Sommer vertröstet. Dann wäre alles vorbei, es würde ein Fest geben, und dabei würde ich ihn kennenlernen. So ähnlich hat sie sich ausgedrückt.«
Asmus schrieb mit. »Wir werden dem nachgehen. Wenn es ihn gibt, finden wir ihn.«
Seine Stimme klang entfernt, denn in ihren Ohren setzte ein Rauschen ein. Asmus und der Gummibaum am Fenster begannen zu kreiseln.
»Sie sind ganz blass. Alles in Ordnung?«
Das Drehen hörte auf. A-alles in O-odnung. Da waren sie wieder, diese Worte!
Ebba zwang sich, aufrecht
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