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Im Dunkel der Schuld

Im Dunkel der Schuld

Titel: Im Dunkel der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rita Hampp
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sie streiten, lachen, sich auf die Nerven gehen. Nie mehr würde sie ihre große Schwester beschützen können.
    In die Tiefe gestürzt. Gott! Was musste nur in ihr vorgegangen sein? Vielleicht war es beim letzten Telefonat gar keine Angst vor etwas oder jemand Fremden gewesen. Vielleicht hatte sie es nur in Rosies Worte hineininterpretiert, weil sie immer Angst gehabt hatte. Vielleicht war der Anruf ein letzter Hilferuf gewesen, und sie hatte ihn nicht erkannt! Vielleicht hatte Rosie schon in der Silvesternacht auf dem Balkon gestanden und überlegt, ob sie springen sollte.
    Ebba schloss die Augen, aber das half nichts. Wie sahen zerschmetterte Menschen aus? Was dachte man, während man fiel? War man noch bei Bewusstsein, wenn man unten aufprallte? Hatte man Schmerzen?
    Â»Ich will den Turm sehen«, sagte sie.
    Inken schüttelte den Kopf. »Morgen. Heute gehen wir nach Hause, machen den Ofen an, dann gibt es heißen Grog und Krabbenbrot. Mögen Sie Krabben?«
    Inkens Wohnung war genauso kunterbunt wie sie selbst. Blaue, rote, gelbe und grüne Polstermöbel und Kissen, karierte Vorhänge, geblümte Tischdecken, ein gestreifter Teppich auf breiten Holzdielen. Ebba wurde es fast schwindelig, als sie sich auf das kleine, geschwungene Sofa setzte, auf dem ein Lammfell lag. Alles war so kuschelig, aber auch so einschnürend hier. Am liebsten hätte sie irgendein Fenster aufgerissen, um Luft zu bekommen, auch wenn ihr eisig kalt war.
    Die billigen Holzregale quollen über von Büchern, die meisten mit hellblauen und rosafarbenen Rücken, aber auch etliche historische Romane konnte sie ausmachen. Ein Kontrastprogramm zu Rosies Buchgeschmack. Die beiden mussten sich wunderbar ergänzt haben. An den Wänden hingen Fotografien von Rapsfeldern unter blauem Himmel, von Segelschiffen und Wiesen mit Klatschmohn.
    Allmählich begann der Kanonenofen zu bollern. Ebba schälte sich aus dem Mantel, obwohl sie immer noch fürchtete, innerlich zu erfrieren, wenn sie schon nicht erstickte. Der Grog war heiß und roch stark, zwar nicht unbedingt nach Schnaps, aber trotzdem drehte sich ihr der Magen um. Sie musste das Henkelglas abstellen.
    Â»Gibt es auch Wein oder Bier?«
    Â»Flens. Habe ich immer im Kühlschrank. Das mag Heiko nämlich. Mein Freund.«
    Ebba stand auf und nahm einen Fotorahmen von der Fensterbank. Ein hübscher blonder Junge mit dem gleichen offenen Lachen wie bei Inken.
    Â»Haben Sie Rosies Freund jemals zu Gesicht bekommen?«
    Â»Der, den Sie am Telefon erwähnt hatten?«
    Â»Hat sie nie von ihm erzählt? Er muss doch angerufen oder sie in der Buchhandlung abgeholt haben.«
    Inken hielt ihr eine gedrungene Bügelflasche hin. »Ein Glas?«, fragte sie und schüttelte gleichzeitig den Kopf. »Mir ist nie was aufgefallen …«
    Sie setzte sich auf einen Ikea-Sessel und nippte am dampfenden Glas, während sie vor sich hin starrte und die Unterlippe vorschob.
    Â»Nö. Nichts. Auch Weihnachten nicht.«
    Â»Und Silvester? Da ist sie wohl weggefahren. Wissen Sie, wohin?«
    Â»Das war es ja. Ich habe sie danach gefragt, und sie ist fast durchgedreht. Sie verbitte sich solche Fragen. Sie habe ein Anrecht auf ein Privatleben, und das sei nur so lange privat, wie es nicht vor jedem ausgebreitet würde. Es sei doch wirklich an der Zeit, dass sie ihr eigenes Leben führen dürfe.«
    Â»Kommt mir bekannt vor.«
    Â»Merkwürdig war das schon, oder? Ich meine, so kannte ich sie gar nicht. Ich bin jetzt seit zwei Jahren bei ihr. Aber in letzter Zeit …« Inken schüttelte den Kopf. »Also, ich kann jetzt grübeln wie ich will – entweder sie hat es sehr geheim gehalten, oder es gab niemanden.«
    Ebba nahm einen Schluck Bier, das frisch und herb schmeckte, aber viel zu kalt war.
    Â»Vielleicht wissen die Nachbarn etwas. Irgendjemand muss doch etwas mitbekommen haben. Niemand kann über zwei Jahre unsichtbar sein. Haben Sie gewusst, dass sie die Wohnung in dem Turm gekauft hatte? Vor einem Jahr schon? Achter Stock – und das Rosie.« Je länger sie darüber nachdachte, umso obskurer wurde das alles.
    Ein durchdringender Wind strich über die Wasseroberfläche, ließ die Eisschollen aneinander- und übereinanderschwappen und fegte tief liegende graue Wolken vor sich her. Ebba stopfte ihre Hände in die Manteltasche und hob die Schultern, denn die Kälte fraß sich durch die

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