Im Dunkel der Waelder
verraten? Aber wenn doch ihr Leben in Gefahr ist? Ich entscheide mich deshalb dafür, den Zeigefinger zu heben.
»Hat Sie Ihnen gesagt, daß sie den Mörder kennt?«
Ich hebe den Zeigefinger.
»Hat sie Ihnen seinen Namen genannt?«
Kein Zeigefinger.
»Hatten Sie den Eindruck, daß sie irgendwie, sagen wir mal, seelisch gestört ist?«
Schlagartig wird mir klar, worauf er hinauswill. Er glaubt, Virginie sei verrückt! Kein Zeigefinger.
»Verstehen Sie mich richtig. Es ist ein entzückendes kleines Mädchen, das durch den Mord an seinem Halbbruder ein schweres Trauma erlitten hat.«
Ihr Halbbruder? Das wußte ich nicht.
»Als Hélène Siccardi Paul Fansten heiratete, war der kleine Renaud bereits zwei Jahre alt. Paul Fanstens erste Frau starb 1986 an Krebs. Die neue Madame Fansten hat sich immer sehr liebevoll um Renaud gekümmert, wie übrigens auch um Virginie, doch das Kind verhält sich eigenartig, und der Schuldirektor findet, daß Virginie ungewöhnlich in sich gekehrt ist. Mir gegenüber ist sie vollkommen verschlossen, und ich bekomme kein Wort aus ihr heraus. Deshalb habe ich mir erlaubt, Sie aufzusuchen. Mir scheint, daß dieses Kind ein Geheimnis mit sich herumträgt, vielleicht hat sie zu Ihnen mehr Vertrauen. Hat sie Ihnen gegenüber irgend etwas erwähnt, wodurch man möglicherweise Rückschlüsse auf die Identität des Täters ziehen könnte?«
Kein Zeigefinger.
»Hat sie behauptet, eines oder mehrere dieser Verbrechen beobachtet zu haben?«
Und wenn sie sie für verrückt erklären? Will man sie ihren Eltern wegnehmen? Der Fürsorge übergeben? Wenn Virginie nun aufgrund meiner Antworten in ein Heim kommt … Verdammt, ich weiß nicht, was ich tun soll. Kein Zeigefinger.
»Denken Sie gut nach. Sie sind wahrscheinlich die einzige Person, die in der Lage ist, Virginie und uns zu helfen.«
Na, das ist ja wirklich die Höhe! Wenn sie auf mich zählen, kann sich die Lösung des Falls noch hinziehen! Ich rühre mich nicht.
»Nun gut. Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit. Wenn Sie gestatten, werde ich mich jetzt verabschieden. Mir scheint, ich muß die kleine Virginie noch einmal befragen. Auf bald, Mademoiselle Andrioli. Ich wünsche Ihnen gute Besserung …«
Die Tür fällt ins Schloß. Idiot! Ich leide doch nicht an einer Grippe! Gute Besserung! Bessere dich doch erst einmal selbst!
Hätte ich zugeben sollen, daß ich mehr weiß? Warum habe ich es nicht getan? Das war dumm von mir. Und jetzt ist es zu spät.
Es ist drückend heiß. Typisches Juliwetter. Ich sitze in der Laube, im Schatten, auf meinem Gummikissen. Yvette hat mir die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ich hasse das, aber sie hat mich nicht nach meiner Meinung gefragt. Ich habe das Gefühl, daß ich entsetzlich dünn geworden bin. Mit meinem zurückgebundenen dunklen Haar, meiner fahlen Haut und meinen erschöpften Gesichtszügen habe ich wohl mehr Ähnlichkeit mit einem Vampir als mit einem Topmodel.
Doch das scheint Paul nicht zu stören. Er hat mich inzwischen schon drei oder viermal besucht, um mir Obst oder einen Kuchen von Hélène vorbeizubringen, oder um Virginie bei Yvette abzusetzen, die ihr einen Kinobesuch versprochen hat … Und gestern hat er seine Hand auf meine Schulter gelegt und gemurmelt: »Ich weiß, daß das, was ich jetzt sage, vielleicht grausam klingt, aber manchmal sehne ich mich nach Ihrer Einsamkeit, manchmal möchte ich mich, genau wie Sie, der Welt entziehen.« Phantastisch, super, na, dann tauschen wir doch einfach! Leider passierte nichts dergleichen. Ich bin noch immer an meinen Rollstuhl gefesselt, und er kann noch immer stehen. Nachdem er mir noch einmal kräftig auf die Schulter geklopft hatte, ist er gegangen.
Jetzt, wo ich in der Laube sitze und vor Hitze umkomme, muß ich wieder an seine Worte denken. Yvette macht gerade eine Fruchtkaltschale. Wir sind zu einer Grillparty eingeladen, und sie möchte dort nicht mit leeren Händen erscheinen.
Ach ja, stimmt: Ich bin nicht mehr von der Gesellschaft ausgeschlossen, Hélène und Paul haben mich ihren Freunden vorgestellt, junge Paare aus der Siedlung, die sie vom Tennisspielen oder aus dem Schwimmbad kennen; sie haben mich alle quasi adoptiert. Ich bin das neue Maskottchen des Neubauviertels von Boissyles-Colombes. Ich weiß nicht, warum all diese Leute so nett zu mir sind. Vielleicht fühlen sie sich wie barmherzige Samariter, wenn sie mich in ihrer Mitte dulden. Die Tatsache, daß ich nicht abstoßend wirke, kommt mir dabei
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