Im Dunkel der Waelder
sicherlich auch zugute. Ich sabbere nicht, ich hampele nicht unkontrolliert in meinem Rollstuhl herum, ich rolle nicht mit den Augen. Ich bin eher so eine Art Dornröschen, das auf ihrem Thron eingenickt ist. So sehe ich es zumindest. Immerhin nimmt man mich jetzt überallhin mit, und häufig werde ich von den Leuten angesprochen. Sie erzählen mir eigentlich nur Nebensächlichkeiten, durch die sie mir aber einiges über ihre persönlichen Sorgen und Nöte verraten. Ich habe gelernt, sie an ihren Stimmen zu erkennen, sie auseinanderzuhalten; und ich habe mir dadurch von jedem ein ›Bild‹ gemacht.
Zu den engeren Freunden der Fanstens gehören Claude und Jean-Mi Mondini; er ist Ingenieur, sie arbeitet für einen katholischen Wohltätigkeitsverband. Ihrer Stimme nach halte ich sie für eine fröhliche, dynamische, etwas verklemmte junge Frau, die bestimmt auch ihre Jogginghosen bügelt. Jean-Mi bemüht sich, wie der nette Kumpel von nebenan zu klingen. Er hat eine schöne Stimme und singt im Chor. Sie haben drei wohlerzogene Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Das andere Freundespaar sind Betty und Manu Quinson. Die beiden gehen, wie man so schön sagt, mit der Zeit: Sie kennen alle Hard Rock-Gruppen, benutzen alle Wörter, die gerade in sind, machen Thalasso-Wochen, fahren zum Snowboarden und leben makrobiotisch. Manu ist leitender kaufmännischer Angestellter bei der Air France und Betty hat ein Geschäft in der Nähe von Versailles, in dem sie edlen Trödel verkauft. Manu hat man mir als klein, untersetzt und bärtig beschrieben. Bei Betty stelle ich mir vor, daß sie das Gesicht einer Katze und dichtes, lockiges Haar hat, außerdem weite Kleider trägt. Besonders eng sind die Fanstens mit Sophie und Steph Migoin befreundet. Steph beziehungsweise Stéphane ist Unternehmer, Sophie arbeitet nicht. Wie Hélène erzählt hat, haben sie eines der luxuriösesten Häuser hier in der Gegend. Mich beeindruckt Stéphanes tiefe Stimme, und sein lautstarkes Gelächter erschreckt mich jedes mal. Er wirft immer alles um: Weinflaschen, Gläser, Teller, er ist die Inkarnation eines Trampels, der Typ, zu dem man sagt: »Steph, das ist mein Fuß, den du da gerade zerquetschst!« oder: »Steph, könntest du mit den Kindern irgendwo anders Räuber und Gendarm spielen als hier unter dem Tisch?« Sophie ist da viel unauffälliger, sie hat eine etwas affektiert klingende Stimme, und ich stelle sie mir ein wenig zickig vor, im Chanel-Kostüm, mit kantigem und stets perfekt geschminktem Gesicht. Obwohl ich mich an den Gesprächen nicht beteiligen kann, langweile ich mich nicht. Ich bin damit beschäftigt, jeder Stimme ein Gesicht zuzuordnen. Im Laufe des Abends ändere ich die Augen, die Nasen, die Frisuren – als würde ich Phantombilder anfertigen.
Virginie ist seit zwei Wochen im Ferienlager. Sie kommt heute zurück. Hélène hat mir erzählt, daß Kommissar Yssart vorbeigekommen ist, um Virginie ein paar Fragen zu stellen, aber da saß sie schon in dem Bus, der sie in die Auvergne bringen sollte. Er meinte, er würde es nach ihrer Rückkehr noch einmal versuchen. Man könnte meinen, es gäbe nichts Wichtigeres. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. All diese Geschichten um die Morde scheinen in weite Ferne gerückt. Trotz der Ereignisse wollen alle nur noch den Sommer genießen und sich amüsieren.
Auch ich werde mich amüsieren. Nach all den Monaten, in denen ein tiefsitzender Pessimismus von mir Besitz ergriffen hatte, habe ich nun das Gefühl, endlich wiederaufzuleben. Ich höre die anderen sprechen, lachen, und es ist ein bißchen so, als ob ich ein Teil von ihnen wäre. Alle sind sehr nett zu der ›ausgestopften Puppe‹ Andrioli. Hélène hat mir erzählt, daß Sophie Migoin sehr eifersüchtig auf mich ist, seit ihr Mann Steph lauthals verkündet hat, daß ich ›das hübscheste Mädchen in dieser ganzen beschissenen Stadt‹ sei. Natürlich war er betrunken, aber es hat mich trotzdem gefreut.
»Sie werden sehen! Wenn Sie wieder gesund sind, werden sich alle um Sie bemühen!« hat Hélène mir neulich zugeflüstert. Gesund, gesund! Ich bin nicht krank, ich bin ›out‹, außer Betrieb, und was irgendwelche Fortschritte betrifft, ich sehe keine. Zeigefinger, Zeigefinger und noch mal Zeigefinger. Eine immerwährende Zeigefinger-Zukunft ist nicht gerade mein Traum. Keine negativen Gedanken, konzentrier dich auf heute abend.
Der Schweiß rinnt mir die Schläfen entlang. Yvette ist in der Küche. Ich kann ihn nicht
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