Im Dunkel der Waelder
kostet viel Geld. Und wo ist dein kleiner Freund?«
»Er ist zu seinem Bruder zurück. Er mußte nach Hause.«
»Ach so. Na, willst du dich zu mir setzen? Ich gebe dir die Seite mit den Comics, wenn du möchtest.«
»Au ja.«
Ich kann es nicht ändern, ich habe plötzlich ein ungutes Gefühl. Daß wir Mathieu getroffen haben, scheint mir ein merkwürdiger Zufall zu sein. Und seine plötzliche Abwesenheit beunruhigt mich ebenso.
»Ist der Platz noch frei?« erkundigt sich höflich die Stimme einer Dame mit nordfranzösischem Akzent.
»Aber natürlich. Setzen Sie sich, Rutsch ein bißchen, Virg’.«
Virginie sitzt nun ganz nah an meinem Rollstuhl. Yvette und die Dame kommen ins Gespräch.
»Elise, hörst du mich?« flüstert Virginie plötzlich.
Zeigefinger.
»Ich habe Angst um Mathieu.«
Ich auch.
»Ich glaube, er wird bald tot sein.«
O nein, nein! Wenn ich dieses Kind doch nur packen, es schütteln und ihm sein Geheimnis entlocken könnte …
»Ich habe sie gesehen, die Bestie. In der Nähe des Parkplatzes.«
Mich überkommt ein seltsames Gefühl, mir wird ganz schwer ums Herz. Und mein blödes Gesicht, das keine Miene verziehen, und mein blöder Mund, der nicht schreien kann! Ich muß merkwürdig ausgesehen haben, denn Yvette unterbricht ihre Unterhaltung:
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
Zeigefinger. Ja, so ist es.
»Wollen Sie nach Hause zurück?«
Kein Zeigefinger.
»Wollen Sie noch etwas spazierengefahren werden?«
Ja, das ist eine gute Idee. Gehen wir spazieren, vielleicht taucht Mathieu ja wieder auf. Ich hebe den Zeigefinger.
»Nun gut«, seufzt Yvette resigniert. »Gehen wir. Auf Wiedersehen«, meint sie zu der Dame aus Nordfrankreich, die mich sicher anstarrt.
Wir setzen uns in Bewegung. Virginie trällert vor sich hin. Erst nach einer Weile wird mir bewußt, was sie da singt. Es war einmal ein kleines Schiff. Sie ist gerade bei der Stelle, wo die Gischt das Boot verschlingt. Ein böses Omen.
Eine Weile gehen wir so dahin; an der lieblosen, ruppigen Art, mit der Yvette den Rollstuhl schiebt, merke ich, daß sie schlecht gelaunt ist. Ein paar Kinder kommen angelaufen und sprechen mit Virginie. Wir müssen ganz in der Nähe des Springbrunnens sein, denn das Rauschen des Wassers ist deutlich zu hören. Ich glaube, ich habe bloß eine blühende Phantasie. Plötzlich ruft Yvette:
»Virginie! Komm mal her!«
»Was ist?«
»Wer ist der Junge, mit dem du gerade gesprochen hast? Der große mit der roten Mütze?«
»Welchen meinst du denn?«
»He, Sie, junger Mann!« ruft Yvette. »Ja, Sie meine ich! Sie mit der roten Mütze!«
Sie beugt sich zu mir herab und sagt mir ins Ohr:
»Man kann nie wissen, ob er nicht einer dieser Dealer ist …«
Unter anderen Umständen hätte ich sicher gelacht.
»Ja?«
»Was wollten Sie von Virginie?«
»Ich wollte nur wissen, ob sie Mathieu gesehen hat, meinen kleinen Bruder …«
Ich spüre, wie das Unglück über uns hereinbricht.
»Aber ich dachte, er sei bei Ihnen!« wundert sich Yvette.
»Nein, er wollte mit Virg’ Süßigkeiten kaufen gehen, und das dauerte und dauerte. Ich weiß nicht, wo sich der Blödmann rumtreibt, aber …«
»Hören Sie, ich will Sie ja nicht unnötig aufregen, aber er hat Virginie gesagt, daß er zu Ihnen zurückgeht.«
»Hat er das gesagt, Virg’?«
»Ja, er wollte keinen Ärger kriegen.«
»Mist … wenn ich den zu fassen kriege …«
»Da vorne ist ein Polizist«, meint Yvette nervös, »den können wir ja mal fragen.«
»Nicht nötig, der hat doch sicher Besseres zu tun!«
»Was ist los?« fragt eine Stimme mit unüberhörbarem Pariser Akzent. Das muß der Polizist sein.
Ein entsetzter Aufschrei. Direkt hinter uns. Mir platzt fast das Trommelfell.
»Was ist passiert?« schreit Yvette außer sich.
Mein Herz rast. Ein zweiter Aufschrei. Es ist eine Frau. Der durchdringende Ton einer Trillerpfeife, hastige Schritte.
»Virginie, bleib hier!«
Die Leute laufen zusammen, erstaunte Rufe werden laut.
»Nein, du bleibst jetzt hier und gibst mir deine Hand!« wettert Yvette.
Um uns herum herrscht ein Stimmengewirr; ich habe das Gefühl, in einen Orkan aus Stimmen geraten, in einem Ozean aus Geräuschen gekentert zu sein. Pfiffe einer Trillerpfeife, Sirenengeheul eines Krankenwagens, Polizeisirenen, mein Herz pulsiert in meinen Schläfen.
»Gehen Sie weiter, machen Sie doch bitte Platz …«
»Was ist passiert?«
»Ich weiß auch nicht mehr als Sie. Treten Sie zur Seite.«
Man murmelt sich Entsetzliches
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