Im Dunkel der Waelder
Ich bin unglücklich, ich habe das Gefühl, in einem Alptraum zu leben, ich verstehe nicht, was in mich gefahren ist.«
Er holt tief Luft.
»Ich kann nur hoffen, daß Sie meine Gefühle erwidern …«
Kein Zeigefinger. Er redet Unsinn, kein Zeigefinger.
»… aber ich möchte, daß Sie wissen, daß ich Ihr Freund bin. Wirklich Ihr Freund. Ich werde es nicht zulassen, daß man Ihnen etwas antut.«
Nur Gerede … Und gestern …
»Catherine ist da!« unterbricht Yvette prosaisch.
Stéphane steht hastig auf.
»Bis bald, Elise. Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen gesagt habe. Oh, guten Tag, Cathy!«
»Hallo, Steph! Oh … Sie sehen ganz schön mitgenommen aus …«
»Nein, halb so wild, es geht schon.«
»Nehmen Sie Sonntag trotzdem am Turnier teil?«
»Bestimmt. Ich muß los, ich bin schon spät dran, auf Wiedersehen.«
Turnier? Ach ja: Er spielt Tennis. Ich wußte nicht, daß Catherine die Große und er sich kennen. Sie stellt meinen Rollstuhl nach hinten und fängt an, meine Knie zu massieren.
»Ich wußte gar nicht, daß Migoin ein Freund von Elise ist«, ruft sie in Richtung Küche.
»Wir haben ihn durch Paul und Hélène Fansten kennengelernt. Wirklich ein netter Kerl.«
»Was ist ihm denn passiert?«
»Wie? Haben Sie etwa nicht davon gehört?«
Getuschel: Catherine wird über die gestrigen Ereignisse in Kenntnis gesetzt. Daraufhin vergißt sie meine Kniescheiben, und ich kann in Ruhe nachdenken.
Wie kommt es zum Beispiel, daß, wenn Virginie nicht da ist, auch nichts passiert? Nein, nein, ich will der Kleinen keine dämonischen Kräfte zuschreiben, aber in welcher Verbindung steht sie mit der ›Bestie der Wälder‹? Hätte ein Kind die Kraft, ein anderes Kind umzubringen? Stop. Ich denke schon wieder in die falsche Richtung. Ich habe noch von keinem siebenjährigen Kind gehört, das ein ›Serienmörder‹ sein soll. Also, was stimmt nicht mit Virginie? Denn ich spüre ganz deutlich, daß da was nicht stimmt. Irgend etwas ist faul. Sie ist zu steif, zu artig, ihre Stimme zu ruhig. Man könnte jetzt einwenden, kein Wunder bei dem, was die Kleine mitansehen mußte … oder gar nicht mitangesehen hat, ich weiß überhaupt nichts mehr. Aua, Catherine die Große ist dabei, mir die linke Schulter auszukugeln. Ich muß unbedingt Yvettes Aufmerksamkeit erregen und ihr begreiflich machen, daß ich dringend Yssart sprechen muß. Sobald Catherine gegangen ist, werde ich es versuchen.
Catherine ist gegangen, aber Yvette kümmert sich offensichtlich nicht um mich: Für Monsieur Guillaume bringt sie das Haus auf Hochglanz. Man könnte meinen, der französische Präsident höchstpersönlich statte uns einen Besuch ab. Von Zeit zu Zeit hebe ich den Zeigefinger, wenn ich höre, daß sie in meiner Nähe ist, doch vergeblich: Sie muß mit der Nase förmlich am Staub kleben. Doch was noch schlimmer ist, sie hat mir eine Literatur-Kassette eingelegt, die Hélène mir aus der Stadtbücherei – nein, Entschuldigung, der städtischen Mediathek – mitgebracht hat, und nun höre ich, wie jemand mit begeisterter Stimme Balzac vorträgt. Das mag zwar gut gemeint sein, aber erstens hasse ich es, wenn man mir vorliest, und zweitens kenne ich das Buch auswendig, weil ich es schon mehrmals gelesen habe. Aber was soll’s … ich kann mich ja nicht dauernd beklagen.
Ah! Die erste Seite der Kassette ist zu Ende. Yvette wird kommen und sie umdrehen. Ich höre Schritte, schnell, Zeigefinger, Zeigefinger, Zeigefinger.
»Ja, ja, ich komm ja schon.«
Nein, Yvette, nein, Zeigefinger, Zeigefinger, Zeigefinger.
»Also wirklich, einen Augenblick Geduld, wenn Sie ungeduldig sind, können Sie richtig unausstehlich sein!«
Mist!
Die Worte Balzacs dröhnen mir wieder aus dem Rekorder entgegen, ich könnte ihn mühelos verstehen, wenn ich in der hintersten Ecke im Garten säße. Und Yvette ist, vor sich hinmurmelnd, auch wieder gegangen. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als einen geeigneten Moment abzuwarten.
Ich wache erschreckt auf. Ich muß beim Klang der begeisterten Stimme eingenickt sein. Wo ist Yvette? Ich lausche, versuche herauszufinden, wo sie sich im Haus aufhält. Ah, sie ist draußen. Sie spricht mit jemandem. Ich erkenne Hélènes Stimme, die ›auf Wiedersehen‹ sagt. Yvette kommt herein.
»Sie haben Glück, Hélène hat Ihnen ein paar neue Kassetten vorbeigebracht.«
Super. Ich hoffe, es ist die Gesamtausgabe in dreihundertsiebzig Bänden.
»Wollen Sie weiterhören?«
Kein Zeigefinger.
»Gut, wie Sie
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