Im Dunkel der Waelder
den Eindruck, daß sie abwesend ist, daß sie uns nicht hört; sie sagt zwar ja, sie lächelt, aber sie scheint vollkommen leer. Ich war mit ihr beim Schulpsychologen, er meint, das sei normal, sie habe einen großen emotionalen Schock erlitten, denn die Morde an Michael und Mathieu hätten den Verlust ihres Bruders wieder in ihr aufleben lassen … Er sagt, sie brauche Zeit. Ich kann nicht mehr einfach dasitzen und warten, ich kann nicht mehr weiter warten, immer soll man warten, immer heißt es, die Zeit heile alle Wunden, aber die Wahrheit ist, daß das nicht stimmt. Es wird nicht besser, es kann sogar schlimmer werden!«
»Das dürfen Sie nicht sagen, Hélène. Sie durchleben eine sehr schmerzliche Phase, aber Sie werden sehen … Eines Tages ist all das nur noch Vergangenheit. Sie werden wieder voller Zuversicht in die Zukunft blicken …«
Für meine Begriffe übertreibst du ein wenig, meine liebe Yvette … aber du meinst es ja nur gut. Und was soll man ihr auch sagen? Ja, Ihre Tochter ist verrückt, Ihr Mann scheint Sie nicht mehr ertragen zu können, Ihre beste Freundin hat sich gerade umgebracht, und deren Mann hat vielleicht Ihren Stiefsohn getötet, aber sonst ist doch alles in schönster Ordnung …
»Ja, Sie haben vielleicht recht … Wir werden sehen«, gibt Hélène teilnahmslos zurück. »Und Sie, Elise, geht es Ihnen gut?«
Zeigefinger.
»Elise hat einen neuen Rollstuhl.«
»Ah, ja! Das ist mir gar nicht aufgefallen. Entschuldigen Sie, aber im Augenblick …«
Das glaube ich dir gern, daß dich mein Rollstuhl im Augenblick nicht die Bohne interessiert.
»Es ist ein elektrischer. Man kann ihn schieben, aber sie kann sich auch alleine fortbewegen.«
»Aber das ist ja wunderbar! Zeigen Sie doch mal!«
Ich habe noch nie jemanden das Wort ›wunderbar‹ so hoffnungslos aussprechen hören. Aber gut, ich gehorche: vor, zurück …
»Oh, Elise! Das ist phantastisch! Endlich können Sie sich selbst vorwärts bewegen!«
Ja, zwischen zwei Wänden hin- und herfahren!
»Jean Guillaume hat ihn bei Romero im Schaufenster gesehen und hatte die Idee, ihn für Elise umzubauen.«
»Sagen Sie mal, Yvette, dieser Monsieur Guillaume scheint Sie ja ziemlich zu interessieren«, versucht Hélène mit nicht eben fröhlicher Stimme zu scherzen.
»Ich muß zugeben, daß er mir sehr sympathisch ist, außerdem ist es doch immer sehr nützlich, einen Mann im Haus zu haben. Möchten Sie noch etwas Kaffee?«
»Nein danke, ich bin schon nervös genug. Hat Paul nicht angerufen?«
»Paul? Nein …«
»Ich dachte nur, weil er gesagt hat, er würde mich zu Hause anrufen, und er hätte vielleicht hier angerufen, während ich unterwegs war …«
»Er hat sicher sehr viel Arbeit …«
»Ja, im Augenblick ist er völlig überlastet. Ich habe ihn angerufen, um ihm zu sagen, daß Sophie … Er war in einer Besprechung, aber die Polizei war schon dagewesen, dieser junge Inspektor Gassin, und Paul wollte mich zurückrufen … Das Wetter ist wirklich wunderbar heute.«
»Sollen wir nicht einen kleinen Spaziergang machen?«
»Warum nicht? Hinterher hole ich dann Virginie ab.«
»Ich suche nur rasch ein Plaid für Elise.«
Genau, damit ich umkomme vor Hitze. Hélène steht neben mir, und ich rieche ihr Parfüm.
»Stéphane hat seine Frau nicht umgebracht«, flüstert sie mir hastig zu.
Na, um so besser, aber ehrlich gesagt bin ich nicht davon ausgegangen …
»Sie wissen die Wahrheit, nicht wahr?«
Welche Wahrheit? Was redet sie da?
»Gehen wir?« unterbricht Yvette und legt mir ein zentnerschweres Plaid auf die Knie.
Die Wahrheit … die wüßte ich nur allzu gern … Draußen ist es warm, und ein angenehmer Duft erfüllt die Luft. Hélène denkt bestimmt an Renaud, den man gerade in einem Dunst von Formalin seziert, und an Sophie, die im Leichenschauhaus liegt. ›Stéphane hat seine Frau nicht getötet‹ … Soll das heißen, daß sie umgebracht wurde? Daß es sich vielleicht um einen kaschierten Mord handelt? Aber nein, was bilde ich mir da wieder ein! Komm, genieß den Spaziergang, liebe Elise, und vergiß alles andere!
Die Wahrheit … woher sollte ich sie wissen? Und Hélène, kennt sie die Wahrheit? Glaubt Hélène, daß Virginie etwas weiß? Daß Virginie mir etwas anvertraut hat? Elise, hör auf damit, du wirst noch verrückt. Gut, gut, schon gut!
Sie haben Stéphane noch immer nicht gefunden. Jetzt ist er schon seit drei Tagen verschwunden. Sophies Beerdigung findet morgen statt. Natürlich will Paul
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