Im Dunkel der Waelder
hingehen und Hélène nicht. Inspektor Gassin zufolge soll Sophie sich wegen ihres Mannes umgebracht haben. Weil er sie verlassen hat. Weil er definitiv verschwunden ist. Er hat alles Geld von seinen Konten abgehoben, seine Geschäfte geregelt und einfach ein neues Leben angefangen. In gewisser Weise ein vorweggenommener Abschied. Ich frage mich, ob er sich auf die Radiodurchsagen der Polizei hin melden wird. Meiner Meinung nach hat er nicht die geringste Lust zu erfahren, was mit seiner Frau geschehen ist. Außerdem haben sie keinerlei Beweise gegen ihn.
Es ist schließlich nicht seine Schuld, daß sie Selbstmord begangen hat. Aber ich könnte mir vorstellen, daß sie ihm etliche Fragen stellen wollen und daß der Tod seiner Frau nur ein Vorwand ist. Eine andere Hypothese: Was würden Sie tun, wenn Sie erfahren, daß Ihr Mann ein Mörder ist? Wenn Sie ihn durch die Beschreibung gewisser Kleidungsstücke wiedererkennen? Wäre das Grund genug, sich umzubringen?
Es läutet. Yvette eilt zur Tür.
»Oh, guten Tag …«
Sie klingt enttäuscht.
»Guten Tag, Madame Holzinski. Ich nehme an, Mademoiselle Andrioli ist zu Hause?«
»Wo soll sie denn sonst sein? Sie ist im Wohnzimmer. Sie kennen den Weg ja.«
»Ja, danke.«
Yssart! Ich höre seine ruhigen Schritte auf dem Parkett. Ich frage mich, wie er gekleidet ist. Im tadellosen Anzug mit Weste? Er duftet nach Rasierwasser.
»Guten Tag, Mademoiselle.«
Zeigefinger.
»Da ich gerade in der Nähe war, erlaube ich mir, Ihnen einen Besuch abzustatten. Keine Angst, ich möchte Ihnen keine Fragen stellen. Nein, sehen Sie, ich bin nur gekommen, um Sie über den neuesten Stand der Dinge zu informieren. Denn ich bin überzeugt davon, daß Sie großes Interesse an dieser traurigen Angelegenheit haben. Die Laboruntersuchung hat eindeutig bewiesen, daß auf dem Kragen des Pullovers, den man in der Forsthütte gefunden hat, Haare waren. Blonde Haare, Stéphane Migoins Haare. Wir haben sie mit denen aus seiner Haarbürste verglichen. Das wollte ich Ihnen mitteilen.«
Also stimmt es doch!?
»Außerdem sieht es so aus, als wäre Madame Migoins Tod nicht unbedingt auf Selbstmord zurückzuführen. Meiner Auffassung nach kann man sie sehr wohl gezwungen haben, die Tabletten zu schlucken. Ihr Kiefer weist ein Hämatom auf, das würde für meine These sprechen, aber sie kann es sich natürlich auch bei dem Sturz aus dem Bett zugezogen haben. Ich habe gehört, daß sich Monsieur Migoin für Sie interessierte.«
Pause. Ich warte. Er beobachtet mich sicher. Dann fährt er fort:
»Man hat mir auch gesagt, daß er am Steuer eines weißen CX gesehen wurde.«
Paul und Hélène! Sie haben also gegen ihn ausgesagt!
»Man hat mir so viele Dinge zugetragen, daß ich einen Haftbefehl gegen Stéphane Migoin beantragt habe. Falls Sie also die geringste Ahnung haben, wo er sich aufhalten könnte, wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie es mir mitteilen würden. Dadurch würden wir alle Zeit sparen.«
Schon wieder! Dieser Typ hält mich offenbar für die Vertrauensperson der ganzen Stadt! Wenn ich wüßte, wo sich Stéphane aufhält, würde ich es auf der Stelle sagen. Ich meine, ich würde mich verständlich machen.
»Wissen Sie diesbezüglich etwas?«
Kein Zeigefinger.
»Glauben Sie, daß die kleine Virginie Monsieur Migoin so verbunden sein könnte, daß sie nicht sagt, was sie über ihn weiß?«
Virginie? Stéphane verbunden? Sie hätte beobachtet, wie er ihren Bruder umbringt und nichts gesagt? Nein, unmöglich! Außer … außer … mein Gott, ja, aber ja! Außer, wenn Stéphane Hélènes Liebhaber gewesen wäre. In diesem Fall hätte Virginie nicht gewagt, etwas zu sagen. Aber Hélène liebt Paul. Warum zum Teufel sollte sie mit Stéphane schlafen? Und Stéphane liebt mich! Huuhu, ich habe den roten Faden verloren.
»Ist Ihnen klar, daß man Stéphane Migoin den Mord an dem kleinen Massenet zur Last legen wird?«
Zeigefinger.
»Glauben Sie, daß er das Verbrechen begangen hat?«
Aber was bildet sich der Kerl ein? Bin ich das Orakel von Delphi? Seit wann interessiert es die Bullen, was Gelähmte denken?
Und was denke ich überhaupt? Ich kann mich nicht entschließen, den Zeigefinger zu heben. Mir wird bewußt, daß ich nicht glauben kann, daß Stéphane diese Kinder getötet hat. Vorstellen kann ich es mir, aber glauben kann ich es nicht.
»Danke. Mir war sehr an Ihrer Meinung zu dieser Sache gelegen. Sehen Sie, Mademoiselle Andrioli, auch wenn Sie das verwundern mag, mir ist
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