Im Dunkel der Waelder
Ihr Urteil sehr wichtig.«
Also, das haut mich doch um! Ich habe mich überhaupt nicht geäußert, aber mein Urteil ist ihm wichtig! Ich glaube, ich träume! Dieser Bulle ist genauso verrückt wie alle anderen. Vielleicht bin ich ja in einem Irrenhaus gelandet und niemand hat es mir gesagt.
»Ich darf mich verabschieden, alles Gute.«
Wie charmant! Danke, und beste Grüße an die Familie. Der nächste bitte! Das Irrenhaus ist täglich geöffnet. Ich höre, wie sich sein ruhiger Schritt entfernt. Er trägt sicher handgefertigte Lederschuhe.
»Ist er weg?« erkundigt sich Yvette aufgebracht.
Zeigefinger.
»Eingebildeter Pinsel!« bemerkt sie noch, ehe sie wieder in ihre Küche zurückkehrt.
Vor, zurück, ich überlege. So viel habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht nachgedacht. Früher war alles so einfach. Ich beklagte mich wie alle anderen auch, aber wenn ich bedenke, wie einfach damals alles im Vergleich zu heute war … Vor, zurück … und wenn ich gegen die Wand rase? ›Gelähmte rast mit 250 Stundenkilometern gegen ihre Wohnzimmerwand und zerschmettert sich beim Aufprall den Schädel!!‹ Vor, zurück, Achtung, meine Damen und Herren, Sie sehen das große Rodeo von Boissy-les-Colombes und als Stargast die unvergleichliche Elise Andrioli. Bitte begrüßen Sie sie mit einem kräftigen Applaus! Gott sei Dank kann niemand meine Gedanken erraten, ich würde mich schämen. Mein armer Vater hat sich immer gefragt, warum ich selbst im schlimmsten Fall noch über alles lachen konnte. Offenbar ist das eine besondere Gabe. Die zweite Möglichkeit wäre, daß ich mit vollständiger Blödheit geschlagen bin. Aber mal ernsthaft: Wo könnte Stéphane stecken? Warum ist er geflohen? Warum hat er beschlossen zu verschwinden, seine Konten aufzulösen und so weiter? Und vor allem, ist er dumm genug, seinen Pullover, der mit Michaels Blut getränkt ist, in der Forsthütte liegen zu lassen? Er ist vielleicht nicht gerade Einstein, aber trotzdem …
8
Schon wieder eine Beerdigung. Doch diesmal bin ich dabei. Da das Wetter schön ist, hat Yvette beschlossen, mich im Rollstuhl hinzufahren. Wir gehen in aller Ruhe zu Fuß. Paul und Hélène sind mit dem Wagen gefahren und haben angeboten, uns mitzunehmen, aber Yvette wollte lieber laufen. Sie sagt, bald kommt der Winter, und wir müßten das schöne Wetter nutzen. Also nutzen wir es.
Wenn die Straße geradeaus verläuft und frei ist, läßt mich Yvette auf den Knopf drücken und selbst fahren. Brumm, brumm … Das schlimmste ist, daß ich begeistert bin. Das Geräusch der Räder auf dem Asphalt, das raschelnde Laub, die Sonnenstrahlen auf meinem Arm, und einfach langsam so vor sich hinzufahren, das ist wirklich angenehm. Ich könnte darüber fast den Anlaß dieser kleinen Spazierfahrt vergessen.
Als wir uns dem Friedhof nähern, bemerkt Yvette knapp: »Wir sind da«, und übernimmt wieder das Kommando. Ende des kleinen bukolischen Intermezzos.
»Der Friedhof ist brechend voll«, flüstert mir Yvette zu.
Die ganze Stadt hat sich eingefunden, die Gerüchteküche brodelt. Da Sophie keine Familie mehr hatte, kümmert sich der Bürgermeister um alles. Der gute Ferber – den ich nicht gewählt habe –, läuft von rechts nach links, schüttelt Hände, überprüft den Blumenschmuck … Er muß sich schließlich einiges einfallen lassen, um das Ansehen seiner Stadt wiederherzustellen …
Anscheinend ist auch Inspektor Gassin in Begleitung von zwei Polizisten anwesend. Sie hoffen sicher, daß sich der Witwer zur Beisetzung einfinden wird. Paul hat uns anvertraut, daß das Haus von Stéphanes Eltern, eine alte Bauersfamilie aus dem Départment Eure, unter ständiger Überwachung steht.
»Guten Tag, wie geht’s?« flüstert uns Hélène zu. »Paul ist da drüben bei Ferber. Weder Michaels noch Mathieus Eltern sind gekommen. Sie kannten Sophie gut, aber nach allem, was man jetzt über Stéphane erzählt …«
Die Trauerfeier beginnt. Der Wind frischt auf, ein kühler scharfer Herbstwind. Ich spüre, wie er meinen Nacken und meine Wangen streift. Ausnahmsweise bin ich Yvette einmal dankbar, daß sie mich wie einen Säugling eingepackt hat. Die Stimme des Priesters dringt nur undeutlich zu mir herüber. Er leiert ohne sonderliche Überzeugung irgend etwas herunter. Glücklicherweise hält der Wind die Anwesenden wach.
Ich höre das dumpfe Geräusch, als die Erde auf den Sarg fällt. Das Knirschen der Schuhe, Bewegungen, Hüsteln, kurz, ein schweigsames Defilé; dann kommt
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