Im Dunkel der Waelder
zufriedengibt.
»Elise? Mein Gott, was ist denn los?«
Die Tränen werden mit einem sauberen Taschentuch abgewischt.
»Ist es wegen dieser Beerdigungen? Atmen Sie tief durch, das hilft. Sie werden sehen, Sie werden es schaffen, ich bin ganz sicher, weinen Sie nicht mehr …«
Yvette flüstert mir beruhigend ins Ohr, ich höre nicht hin; ich bin weit weg, ich bin zurückgekehrt zu jenen Jahren mit Benoît, die unwiderruflich vorüber sind, und ich spüre, wie meine Tränen unermüdlich fließen, wie ein Fluß, der in das Meer der Erinnerungen mündet.
Ich bin allein. Ich fahre vor und zurück, jetzt bin ich wieder ganz ruhig. Nach all den vergossenen Tränen bin ich völlig leer.
In unserer kleinen Stadt brodelt es vor Gerüchten. Die lange Kette tragischer Ereignisse hat uns zu trauriger Berühmtheit verholfen; man spricht im Fernsehen und in der Boulevardpresse über uns. Doch es wird immer nur die Kripo erwähnt, ganz so, als hätten die örtlichen Gendarme und Polizisten überhaupt nichts geleistet.
Der junge Inspektor Gassin zum Beispiel muß stocksauer sein. Er hat nie verwunden, daß man Yssart geschickt hat. Zu Hélène hat er gesagt, daß er nicht begreift, wie diese Großstadttypen die komplexe Verzweigung der Angelegenheit verstehen wollen. Was Yssart angeht … no comment.
Die letzten Neuigkeiten habe ich mit einer gewissen Gleichgültigkeit aufgenommen.
Stéphanes Foto wurde auf allen Fernsehkanälen in den Nachrichten gezeigt. Im ganzen Land hat man die Fahndung nach ihm eingeleitet. Doch bis jetzt ist Steph ihnen nicht ins Netz gegangen.
Die Exhumierung der Leichen hat bewiesen, daß sie allesamt Opfer desselben Mörders waren. Man hat nichts gefunden, was Stéphane be- oder entlasten könnte.
Der Vater von Mathieu Golbert hat einen Journalisten verprügelt, der unbedingt ein Interview wollte, und dabei seinen Fotoapparat zertrampelt.
Vor allem aber geben die Ergebnisse der Autopsie von Sophie Migoins Leiche zu der Annahme Anlaß, daß sie die Schlaftabletten nicht freiwillig genommen hat. Irgend jemand soll ihr den Mund aufgehalten und sie gezwungen haben, sie zu schlucken. Das weiß ich von Hélène, und sie weiß es wiederum von dem reizenden Inspektor Gassin.
Es ist kalt und regnerisch. Guillaume ist mit Yvette zu einem Supermarkt gefahren. Das Geräusch der Regentropfen erinnert an das gedämpfte Geräusch von Tennisbällen beim Aufschlag. Das Telefon. Wie immer hat Yvette, ehe sie weggeht, den Anrufbeantworter eingeschaltet. Ich verhalte mich ganz ruhig, um besser mithören zu können.
»Guten Tag, wir können Ihren Anruf im Augenblick leider nicht persönlich entgegennehmen, hinterlassen Sie uns bitte eine Nachricht nach dem Signalton …«
»Elise? Hören Sie, ich habe nicht viel Zeit.«
Stéphane!
»Sie sind in Gefahr, Elise, in großer Gefahr. Sie müssen die Stadt verlassen, ich habe keine Zeit, Ihnen alles zu erklären, aber glauben Sie mir, es sind grauenvolle Machenschaften im Gang, wenn Sie wüßten, ich muß gehen, ich muß auflegen, ich liebe Sie, Adieu … Ich … nein, nein, laß mich, nein!«
Ein heftiger Schlag gegen die Wand der Telefonzelle, dann nichts mehr. Keuchender Atem. Der nervtötende Tüt-tüt-tüt-Ton der unterbrochenen Verbindung.
Herr im Himmel! Träume ich? Der erstickte Schrei, die Stimme … Hat das zu bedeuten, daß Stéphane soeben … Draußen höre ich ein Knarren, ich schrecke auf, meine Nerven sind zum Zerreißen angespannt. ›In Gefahr … Verlassen Sie die Stadt …‹ Und die unterbrochene Verbindung … Ich fahre nervös mit meinem Rollstuhl im Zimmer auf und ab und wiederhole ständig Stéphanes Worte. Der Regen trommelt auf das Dach. Was hat dieser Anruf zu bedeuten? Es ist furchtbar, wenn man mit niemandem sprechen kann. Mein Gott! Aber der Anruf ist auf dem Anrufbeantworter aufgezeichnet, und das ist der Beweis. Ja, ein Beweis zu Stéphanes Gunsten! Außer, es handelt sich um ein geschicktes Manöver … Wo bleibt nur Yvette? Sie muß doch zurückkommen, den verfluchten Anrufbeantworter abhören und die Polizei informieren! Ich warte ungeduldig, ich sitze auf der Lauer! Die Minuten tröpfeln langsam und nervenaufreibend dahin wie Wasser aus einem Wasserhahn.
Ah! Schritte auf dem Asphalt. Ich will gerade zur Haustür fahren, als mir plötzlich auffällt, daß sie sich nicht öffnet. Ich höre, wie die Klinke heruntergedrückt wird, doch nichts geschieht. Wenn Yvette ihren Schlüssel verloren hat, sitzen wir ja fein in der Patsche.
Weitere Kostenlose Bücher