Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Dunkel der Waelder

Im Dunkel der Waelder

Titel: Im Dunkel der Waelder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Aubert
Vom Netzwerk:
eigenartig, in dieser Familie zu leben. Hélène steht morgens um 7.15 Uhr auf, weckt Paul, machte Frühstück, weckt Virginie. Paul schimpft die ganze Zeit über, daß er zu spät kommen wird, und läuft hektisch hin und her. Virginie trödelt und wird ausgeschimpft. Um 8.10 Uhr verlassen Virginie und Paul das Haus. Um 8.15 Uhr kommt Hélène zu mir. Waschen, die Bettschüssel bringen, anziehen. Meistens schiebt sie mich dann ins Wohnzimmer und schaltet den Fernseher ein, während sie sich um die Hausarbeit kümmert. Mit halbem Ohr verfolge ich die Morgensendungen. Um 11 Uhr Kaffeepause. Es ist wundervoll, hier bekomme ich auch Kaffee! Als ich zum ersten Mal wieder den köstlichen Geschmack auf meinen Lippen spüre, hätte ich die arme Hélène umarmen können!
    Während der Kaffeepause erzählt sie, informiert mich über den neuesten Klatsch und den Fortgang der Ermittlungen, sie sorgt sich um Virginie oder beklagt sich über Paul. Da sie nicht befürchten muß, daß ich ihr widersprechen werde, hat sie Vertrauen. Da kommen ja nette Sachen ans Licht! Ich habe den Eindruck, hinter der schönen Fassade eine andere Welt zu entdecken. Eine Unterwasserreise durch das Gehirn einer normalen Hausfrau. Ein wahrer Vulkan, diese Frau. Empfand ich gegenüber Benoît auch so viel unterdrückten Zorn, unausgesprochene Ängste, überschäumenden Groll? Ich erinnere mich nicht mehr.
    Um 13.30 machen wir uns auf den Weg zur Bibliothek. Sie schiebt meinen Rollstuhl in eine Ecke des Lesesaals. Ich höre, wie die Leute die Seiten umblättern, das Knarren des Parketts, das Kichern der Jugendlichen. Um 17.45 gehen wir nach Hause, auf dem Weg holen wir Virginie vom Nachhilfekurs ab. Dann kommt Catherine die Große, die Zarin der Gebrechlichen: Massage, Dehnung, Einölen, das ganze Programm gegen Wundliegen. Paul kommt zwischen 19 Uhr und 19.30 Uhr. Um 20 Uhr wird gegessen. Virginie geht um 21 Uhr ins Bett. Alles bestens organisiert, da gibt es nichts zu sagen.
    Und ich liege in meinem kleinen Bett im Zimmer des Toten. Virginie war so freundlich, mir zu bestätigen, daß es sich um das Zimmer ihres Bruders handelt. Und es mir zu beschreiben. An der Wand über dem Bett hängt ein Poster der Ninja Turtles und an der gegenüberliegenden, über einem kleinen Schreibtisch, eins von Magic Johnson. Auf dem Schreibtisch stehen Kinderbücher, Hefte, ein Beutel Murmeln und mehrere Schachteln mit angefangenen Modellbauten.
    Im Bettkasten liegt sein Spielzeug. Virginie rührt es nicht an. Spielzeug für kleine Jungs, sagt sie mit verächtlichem Unterton. Nur den Nintendo hat sie sich genommen. Und damit spielt sie stundenlang in ihrem Zimmer, stellt sich imaginären Angreifern, die sie einen nach dem anderen niedermacht.
    Virginie hat mir auch erzählt, daß es an einer Wand Striche gibt, mit denen die Größe ihres Bruders festgehalten wurde. Bleistiftstriche, die bei l ,30 Meter aufhören und sich nicht weiter nach oben bewegen werden.
    Ich schlafe nicht gern in diesem Zimmer. Nicht, daß ich Angst vor Gespenstern hätte, aber es ist ein eigenartiges Gefühl, in dem Bett eines toten kleinen Jungen zu liegen, umgeben von seinen vertrauten Gegenständen … Glücklicherweise habe ich im Augenblick einen festen Schlaf. Hier würde ich nachts nicht gerne aufwachen.
    Es ist unglaublich, wie schnell die Leute meine Anwesenheit vergessen. Sie sprechen in meiner Gegenwart, als wäre ich nicht da. Das ist wie beim Film. Man sagt, daß die Leute sehr schnell die Kamera vergessen, die für eine Reportage vor ihnen aufgebaut ist. In meinem Fall ist es allerdings eher so, als hätte man ein Tonbandgerät statt einer Kamera aufgestellt. Ich höre und schweige. Heute morgen zieht ein großes Gewitter in ›Dolby Stereo‹ auf.
    Hélène:
    »Ich habe deine Vorwürfe satt.«
    Paul:
    »Und ich, glaubst du, ich habe es nicht satt? Glaubst du, mir macht das Spaß. Es war mein Sohn, ist dir das eigentlich bewußt?«
    »Und Virginie? Sie ist schließlich auch noch da, aber Virginie ist dir völlig gleichgültig; sie lebt, sie braucht dich!«
    »Das ist nicht das Problem, das Problem ist, daß du dich gehenläßt, nimm dich zusammen, verdammt noch mal!« brüllt Paul.
    »Für dich ist das leicht, du bist ja nie zu Hause, dir ist alles scheißegal, es würde dir nicht einmal auffallen, wenn wir nicht mehr da wären!«
    Zerbrochenes Geschirr.
    Paul:
    »Ach, Scheiße! Gib mir den Besen!«
    »Hol ihn dir doch selbst!«
    »Papa, wir kommen zu spät.«
    »Virginie, geh ins

Weitere Kostenlose Bücher