Im Dunkel der Waelder
kommt fast nicht mehr, ihre Eltern haben sie zu einem Nachhilfekurs angemeldet, damit sie ihre Versäumnisse aufholt. Manchmal habe ich das Gefühl, daß Hélènes Stimme undeutlich klingt, wenn sie mit Yvette redet. Ich frage mich, ob sie trinkt. Anscheinend hat Paul wahnsinnig viel Arbeit, er kommt spät nach Hause und ist ständig schlecht gelaunt. Selbst Jean Guillaume und Yvette haben sich wegen des Rezepts für Coq au Vin gestritten, und er ist, ohne seinen Kaffee zu trinken, brummend gegangen. Das scheint lächerlich, doch es bringt gut die allgemeine Stimmungslage zum Ausdruck: Gereiztheit und Warten, ohne zu wissen, auf was. Warum finden sie Stéphane nicht? Wollte er sich einen Streich mit mir erlauben? Na ja, einen Streich … das ist so eine Redensart. Wer zu so etwas in der Lage ist, gehört gleich in die Zwangsjacke.
So vergeht die Zeit, alle sind angespannt.
Catherine die Große findet, daß es mir viel besser geht. Sie spürt eine gewisse Spannung in den Muskeln, ein Zittern, das Raybaud dazu veranlaßt, eine erneute Untersuchung anzuordnen.
Krankenhaus. Es riecht nach Formalin, Äther und Medikamenten. Man schiebt mich über die kalten Gänge, in denen die Geräusche widerhallen. Dann werde ich auf einen Tisch gehoben, mit Nadeln gespickt, und man befestigt Elektroden an der Brust und an den Schläfen. Ich werde abgehört, hingesetzt, meine Gelenke werden mit einem Gummihammer abgeklopft, untermalt von einem skeptischen ›hm, hm‹. Es dauert den ganzen Tag. Zum Schluß kommt der Scanner. Alle Ergebnisse werden auf dem Schreibtisch von Professor Combré landen, der sich im Augenblick zu einem Kongreß in den USA aufhält. Man zieht mich an, setzt mich in meinen kostbaren Rollstuhl, und dann geht es zurück nach Hause.
»Nun?« fragt Jean Guillaume, der uns abholt.
»Nach Ansicht des diensthabenden Arztes ist unbestreitbar eine Besserung zu verzeichnen. Um darüber zu entscheiden, ob man die Operation wagen soll, muß man jedoch die Meinung des Professors abwarten.«
Jean Guillaume senkt die Stimme, damit ich nichts höre, aber ich höre es doch.
»Und wenn die Operation gelingt, in welchem Zustand wäre sie dann?«
Auch Yvette spricht jetzt gedämpft.
»Sie wissen es nicht genau. Sie denken, daß sie das Augenlicht und vielleicht auch die Beweglichkeit der oberen Gliedmaßen zurückerlangen könnte.«
Ich spüre eine Mischung aus furchtbarer Verzweiflung und ungeheurer Hoffnung in mir aufsteigen. Verzweiflung, weil ich für immer in den Rollstuhl verbannt bleibe, und die Hoffnung, wieder sehen und mich ein wenig bewegen zu können.
Nun heißt es warten …
9
So, da haben wir den Salat! Yvette ist auf dem feuchten Gehsteig ausgerutscht und hat sich den Knöchel verstaucht, denselben, den sie sich schon im Sommer verknackst hat.
Ich sah mich schon in ein Mehlsacklager abgeschoben, doch Hélène und Paul haben sich freundlicherweise angeboten, mich aufzunehmen, bis Yvette wieder gesundheitlich hergestellt ist. »Es wird etwa vierzehn Tage dauern«, meinte der Arzt.
Yvette ist bei ihrer Cousine. Und mich hat man in einem Zimmer bei den Fanstens einquartiert. Yvette hat Hélène alle Anweisungen zu meiner Pflege schriftlich gegeben. Theoretisch müßte ich überleben.
Jetzt, da ich mich wieder in diesem Haus befinde, fällt mir die Nacht der Grillparty ein, als mich ein Unbekannter auf der Couch befummelt hat. Hoffen wir, daß es nicht Paul war, sonst bin ich jetzt wirklich in der Höhle des Löwen.
Es ist Nacht. Ich liege im Bett. Ein schmales Bett. Die Decke lastet mir bleischwer auf den Füßen. Ich bin überzeugt davon, daß es Renauds Zimmer ist. Es riecht nach Staub und abgestandener Luft. Ich stelle mir Spielzeuge auf einem Regal vor, die mich mit ihrem starren, leeren Blick überwachen. Ich muß schlafen. Die erste Nacht in einem fremden Haus ist immer schwierig. Komm, mein Mädchen, entspann dich. Vierzehn Tage gehen schnell vorbei. Gerade Zeit genug für ein, zwei Kindermorde, einige Selbstmorde und warum nicht auch für eine Vergewaltigung?
Ist Vollmond? Liege ich in ein sanftes Licht getaucht in einem Kinderbett? Wie in einem Horrorfilm?
Ich muß mich entspannen, muß an die Operation denken. Ich muß all meine Kräfte zusammennehmen, um dieser Leere zu entkommen. Mich ganz darauf konzentrieren. Und schlafen. Wie sagen die Perser? »Die Nacht ist hoffnungsschwanger, wer weiß, was sie am Morgen gebären wird?« Amen.
Das Leben nimmt seinen geregelten Lauf. Es ist
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