Im Dunkel der Waelder
Yvette und Jean Guillaume gleichzeitig aus.
»Elise, das ist wundervoll«, fährt Yvette fort.
»Die arme Hélène«, meint Guillaume.
»Ich hoffe, sie macht keine Dummheiten. Ich habe schon seit einiger Zeit bemerkt, daß sie den Boden unter den Füßen verliert. Sie sieht furchtbar aus. Diese dunklen Ringe unter den Augen.«
»Man muß sagen, daß er ihr das Leben nicht eben leicht macht. Ich weiß, daß man sich unter Männern solidarisch verhalten sollte, aber …«
»Nun, bei uns ist jedenfalls alles in Ordnung. Elise, mein Liebes, ich freue mich so! Ich bin sicher, daß Professor Combré Sie jetzt operieren wird.«
Dein Wort in Gottes Ohr, Yvette. Wenn ich könnte, würde ich die Daumen drücken. Aber die Vorstellung, daß Hélène ganz allein durch die verlassenen Straßen irrt, dämpft meine Freude. Ich wäre ruhiger, wenn sich jemand auf die Suche nach ihr machen würde. Als habe er mich gehört, erbietet sich Guillaume:
»Ich werde mal lieber eine kleine Tour mit dem Kombi machen und sehen, ob ich Hélène nicht finde. Man weiß nie … Ich bin gleich zurück.«
»Das ist eine gute Idee, Sie haben recht, ich warte auf Sie.«
Er geht. Yvette dreht den Fernseher lauter, wie immer, wenn sie sich Sorgen macht und nicht darüber reden will. Schweigend hören wir dem Entertainer zu, der dumme Witze reißt. Ich weiß, daß die Sendung um 22.30
Uhr zu Ende ist. Es ist also früher. Ich unterhalte mich damit, meine Hand zu heben und zu senken, nur so, ganz allein für mich. Man gewöhnt sich schnell an Wunder. So schnell, daß ich fast vergessen hätte, daß diese verdammte Hand mir vor weniger als einer Viertelstunde noch den Dienst versagte. Auf, nieder. Auf, nieder. Ich spüre den Schmerz im ganzen Arm, aber selbst das ist angenehm. Schmerz zu empfinden, weil man sich bewegt. Ohne Unterlaß befehle ich meinen Fingern: »Krümmt euch, krümmt euch, ihr verdammten Biester.« Vielleicht mögen sie es nicht, wenn ich sie beschimpfe, also versuche ich es auf die sanfte Tour: »Nun, meine Lieblinge, macht Mama doch die Freude …« Das ist den undankbaren Dingern natürlich völlig egal. Sie haben all die Jahre vergessen, in denen ich sie gewaschen, die Nägel rot lackiert, sie ins laue Meer getaucht und im warmen Sand vergraben habe … Die Wäsche, das Geschirr, das eisige Wasser, der Schnee, der Matsch, der Schmutz, danke, das reicht, ich verstehe, sie streiken! Ich schwebe in einem Zustand dümmlicher Glückseligkeit, dabei müßte ich Angst um Hélène haben, aber ich habe eher Lust, still für mich zu lachen.
Die Tür.
»Nichts. Ich habe sie nicht gefunden. Es regnet in Strömen, ein Wetter, bei dem man keinen Hund vor die Tür jagt.«
»Das sieht man, Sie sind ganz durchnäßt. Ich werde Ihnen einen Kräutertee machen.«
Aus dem Fernseher dröhnt Werbung. Irgend jemand stellt den Ton leiser. Das Telefon. Yvette hebt ab.
»Hallo? Ah, ja, gut, in Ordnung. Gute Nacht.«
Sie legt auf.
»Das war Paul. Hélène ist gerade nach Hause gekommen«, verkündet sie. »Ich bin beruhigt.«
Ich auch.
»Na, dann ist ja alles in Ordnung«, schließt Guillaume. »Der Kräutertee ist ausgezeichnet.«
Heute morgen beim Aufwachen habe ich als erstes an meine Hand gedacht. Und wenn sie sich nun nicht mehr bewegt? Ich habe es sofort mit klopfendem Herzen versucht. Und das Wunder hat sich wiederholt. Der Schmerz im Mittelfinger ist inzwischen deutlich spürbar, ich habe das Gefühl, daß ich ihn bald krümmen kann. Ich bin dabei, mich an den Wundertaten meiner neuen Hand zu erfreuen, als Yvette hereinkommt.
»Raybaud wird später nach Ihnen sehen. Ich habe ihn gerade noch erwischt, ehe er ins Krankenhaus ging.«
Sie räuspert sich.
»Heute nacht ist ein Unfall passiert.«
Ich spüre, wie sich mein Magen zusammenkrampft.
»Joris, der Sohn von Chabrol.«
Joris Chabrol. Ich erinnere mich sofort an ihn. Ein Junge von zwölf Jahren, recht klein für sein Alter. Ein Krimifan. Er kam oft allein oder mit seinem Vater ins Kino. Die Mutter ist vor einigen Jahren mit einem Vertreter durchgebrannt.
»Er ist auf die Bahngleise gefallen und vom Zug überfahren worden«, fährt Yvette fort.
Wie entsetzlich! Ich frage mich, wie das geschehen konnte. Yvette setzt schon zu einer Erklärung an:
»Er war gestern Abend im Kino … Sie wissen ja, daß sein Vater Krankenpfleger ist, er hat dreimal in der Woche Nachtdienst. Der Junge hat sich einen Film mit Sylvester Stallone angesehen, und auf dem Heimweg ist er, niemand weiß
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