Im Dunkel der Waelder
bei der Polizei gemacht? Hauptkommissarin Elise Andrioli. Ein absolutes As. Was hätte Benoît dazu gesagt? Ich brauche nur an Benoît zu denken, und schon fange ich an zu weinen. Tränen rollen über meine Wangen.
»Aber was ist denn los? Meine arme Elise! Es ist furchtbar, ich weiß«, versichert mir Yvette und tupft mir die Augen mit einem Papiertaschentuch trocken.
Ich komme mir lächerlich vor, aber es tut gut, die Schleusen zu öffnen. Ich heule wie ein Schloßhund wegen Benoît, wegen mir, wegen der ganzen Katastrophe; dabei hebe und senke ich unaufhörlich die Hand. Ich fühle mich, als wäre ich vier Jahre alt und würde winke winke machen.
Schließlich höre ich auf zu weinen und schniefe. Yvette hält mir wieder und wieder das Taschentuch hin, damit ich mich schneuzen kann, ich verbrauche mindestens drei dieser Taschentücher. Und unterdessen läuft der Mörder noch immer frei herum.
Es läutet. Yvette läuft zur Tür. Ich versuche, mich zusammenzureißen. Hélène und Virginie kommen ins Zimmer.
»Hallo, Lise, ich habe eine Zwei im Diktat geschrieben.«
Handheben.
»Oh, super! Hast du gesehen, Mama, sie kann die Hand bewegen! Mach es noch mal!«
Dieser Aufforderung komme ich mit Vergnügen nach. Hélène tritt näher:
»Ach, das ist wunderbar! Ich freue mich für Sie, Lise. Dann geht es wenigstens einem gut.«
Peng!
»Was wollen Sie trinken? Einen Saft? Bier?« fragt Yvette, um vom Thema abzulenken.
»O ja, Bier!« ruft Virginie aufgeregt.
»Ganz sicher nicht!« meint Hélène. »Einen Fruchtsaft für Virginie und für mich ein Bier.«
Yvette geht, von der plappernden Virginie gefolgt, in die Küche. Hélène wendet sich an mich.
»Haben Sie schon gehört? Von dem Unfall, den der kleine Joris hatte?«
Handheben.
»Auf dieser Stadt lastet ein Fluch. Das ist kein Scherz, Lise, das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Eine Katastrophe nach der anderen … Da läuft es mir kalt den Rücken herunter. Wissen Sie, ich habe so etwas schon einmal erlebt, und ich dachte … Ich dachte, ich müßte es nie wieder erleben. Aber ich glaube, der Fluch folgt mir. Außer …«
Sie beugt sich zu mir vor, und ich spüre, wie sie zittert, ihr Mund ganz dicht an meinem Ohr, ihre feuchte Haut …
»… außer wenn Tony …«
Schon wieder dieser mysteriöse Tony! Natürlich muß Yvette gerade jetzt zurückkommen, und Hélène wendet sich sofort ab.
»So, ein schönes, kühles Bier und ein leckerer Grapefruitsaft für Virginie und Elise.«
Ich lechze nach Hélènes Bier, und doch muß ich wohl oder übel den Grapefruitsaft schlucken. Glücklicherweise mag ich ihn. Nicht wie der Traubensaft ›Rotbäckchen für Elise‹, den ich morgens und abends trinken mußte, bis es mir schließlich gelang, ihn auszuspucken.
Virginie klettert auf meinen Schoß.
»Was machst du da, komm, hör auf!« protestiert Hélène. Ich hebe die Hand zweimal, um verständlich zu machen, daß es mich nicht stört.
»Stört es Sie nicht?«
Handheben.
»Bald kannst du den ganzen Arm bewegen und das Bein und alles!« sagt Virginie. »Dann gehen wir spazieren, wir beide. Und Renaud«, fügt sie flüsternd hinzu. »Und Joris auch. Alle denken, daß der Zug ihn überfahren hat, aber ich weiß es besser. Die Bestie hat ihn unter die Räder gestoßen. Plumps!«
Woher will sie das wissen? Sie war zu Hause. Aber wenn Paul der Mörder ist, und sie ihn hat weggehen sehen, könne sie es sich denken … Ja, diese Hypothese wird immer plausibler.
»Ach, bin ich dumm! Jetzt habe ich doch die Fernsehzeitung beim Bäcker liegenlassen!« ruft Yvette. »Hélène, könnten Sie noch fünf Minuten hierbleiben?«
»Aber natürlich.«
»Warte, ich komme mit!« schreit Virginie und hüpft von meinem Schoß.
Sobald die beiden das Zimmer verlassen haben, tritt Hélène zu mir. Sie riecht nach Bier, und ich habe plötzlich den Eindruck, das dies heute nicht die erste Flasche ist.
»Niemand weiß etwas von Tony, dem leiblichen Vater von Virginie … Wir waren nicht verheiratet, und er hat die Kleine nicht anerkannt. Sie haben Tony eingesperrt. Er war gefährlich. Einmal hat er mir den Arm gebrochen. Können Sie sich das vorstellen? Nur weil ich ihm widersprochen habe. Darum ertrage ich es nicht, wenn Paul brüllt und grob wird. Das kenne ich nur allzu gut. Ich habe erlebt, wie meine Mutter geschlagen wurde, wie mein Vater sie mit Fußtritten in den Unterleib gestoßen hat, und mich auch. Wegen einer Dummheit, einer albernen Kleinigkeit band er mich am
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