Im Dunkel der Waelder
Yvette. Ich bin sicher, daß sie mich erst in mein Zimmer gebracht hätte. Ich höre zerstreut auf die Scherze; der Imitator hat jetzt seinen Platz einer Sängerin überlassen, sie singt auf englisch, und ihre Stimme ist schrill und in etwa so angenehm wie Kreide, die über eine Schiefertafel kratzt.
»Noch ein Gläschen?« fragt Guillaume.
»Nein, nicht für mich, danke«, protestiert Yvette, die nur wenig trinkt.
»Und Sie, Elise, ein kleiner Schluck zur Kräftigung?«
Zeigefinger. So ein Angebot lehne ich doch nicht ab. Ich spüre das Glas an meinen Lippen, der Wein rinnt in meinen Mund, über meine Zunge, meinen Gaumen, dickflüssig, rot und unglaublich köstlich – nach der langen Abstinenz ebenso berauschend wie eine Dosis LSD. Stürmisches Klingeln. Guillaume fährt zusammen, der Wein rinnt allzu schnell in meine Kehle, ich schlucke, ringe nach Luft. Mist, ich habe mich verschluckt, ich ersticke, ahhh, ich versuche, wieder Luft zu bekommen, uff! Es geht wieder, einmal kräftig husten, einmal tief Luft holen.
Es läutet wieder. Um mich herum Totenstille. Was haben sie denn, warum macht denn keiner die Tür auf? Ich huste noch immer, spucke ein wenig Wein aus. Was ist? Es klingelt! Verflixt, setzt euch gefälligst in Bewegung, dieser schrille Ton ist ja nervtötend!
»Elise …«
Yvette spricht so sanft, als wolle sie mir schonend beibringen, daß jemand gestorben ist.
»Ihre Hand …«
Was ist mit meiner Hand?
Meine Hand. Meine Hand befindet sich in Höhe meines Gesichts. Ich habe die Hand gehoben. Ich habe sie gehoben. Ganz einfach so. Schon wieder die Klingel.
»Ich komme schon!« ruft Yvette und läuft zur Tür.
Ich habe die Hand bewegt.
»Versuchen Sie es noch einmal«, ermutigt mich Guillaume mit seiner angenehmen Stimme.
Ich zögere. Und wenn es nur ein Reflex war? Ein Muskelkrampf? Los, Elise, heb sie noch einmal!
Ich spüre ein Zittern in meinem Handgelenk. Ich denke ganz fest an ein Flugzeug, das von der Piste abhebt, und hopp, es klappt; sie hebt sich ganz brav, eine wunderbare linke Hand, die bestens funktioniert, die mindestens zehn Zentimeter in die Höhe geht, ehe sie innehält.
»Versuchen Sie, die Finger zu bewegen«, murmelt Guillaume.
Die Finger? Ich schlucke. Vage nehme ich Stimmen an der Tür wahr. Ich konzentriere mich ganz auf meine Hand, auf die Sehnen, die Nerven, die hübschen kleinen Fingerchen … Und plötzlich gebe ich ihnen den Befehl: »Krümmen!« Nichts.
»Versuchen Sie es noch einmal!«
Ich entspanne mich. Ruhig durchatmen. Anlauf nehmen. Nichts. Nur ein leichter Schmerz im Mittelfinger. Na gut, ich kann mich nicht beklagen. Meine Hand hat sich bewegt, und das ist phantastisch. Die Sache mit den Fingern wird auch noch werden.
»Ich bin sicher, Sie schaffen es bald«, flüstert Guillaume mir zu.
Plötzlich wird mir bewußt, daß Yvette mit jemandem diskutiert, der sehr laut spricht.
»Ich muß sie finden, verstehen Sie?«
Ich erkenne Pauls Stimme, die vor Angst und Wut bebt.
»Aber ich weiß nicht, wo sie ist«, wendet Yvette ein.
»Was ist denn los?« fragt Guillaume und erhebt sich.
»Paul und Hélène haben sich gestritten, und Hélène hat türenknallend das Haus verlassen«, erklärt Yvette.
»Sie kommt bestimmt zurück, machen Sie sich keine Sorgen, das kommt in den besten Familien vor«, beruhigt ihn Guillaume.
»Sie ist völlig am Ende, ich muß sie finden, es geht ihr im Augenblick wirklich nicht gut, ich habe Angst, daß …«
Er bricht mitten im Satz ab.
»So schlimm?« fragt Guillaume.
»Sie ist sehr depressiv, und ich mache mir große Sorgen«, erklärt Paul.
Plötzlich kommt mir ein furchtbarer Verdacht: Will er sie auch aus dem Weg schaffen? ›Meine Frau war depressiv … Sie hat sich von der Brücke gestürzt …‹ Ich hebe die Hand.
»Was ist, Elise? Wollen Sie uns etwas sagen?« fragt Guillaume.
»Elise kann die Hand bewegen«, erklärt Yvette stolz.
»Super«, bemerkt Paul, dem das offenbar völlig gleichgültig ist.
Plötzlich kommt ihm eine Idee.
»Lise, wissen Sie, wo Hélène ist?«
Er schüttelt mich fast. Es ist genial, die Hand bewegen zu können, denn durch eine winzige Bewegung des Handgelenks von rechts nach links kann man ein Nein andeuten.
»Ah, Mist … Hören Sie, wenn Sie sich bei Ihnen meldet, sagen Sie ihr, daß es mir leid tut, und daß ich zu Hause auf sie warte. Und falls sie vorbeikommt, behalten Sie sie hier und rufen mich an. Ich gehe nach Hause, Virginie ist allein.«
»Na so was!« rufen
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