Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
mir stehen.
»Wieviele?« fragte sie.
Ich lächelte verwirrt und sagte: »Wieviele kann ich nehmen?«
»So viel du willst«, antwortete sie. Sie hatte ein ansprechendes Gesicht und ein freundliches Wesen und sah aus, als sei sie mir wohlgesonnen.
»Ich nehme zwei«, sagte ich.
»Nur zwei?«
»Na, dann fünf.«
»Okay. Das macht zwanzig Kronen.«
Ich bezahlte gehorsam und bekam fünf Spielbons vor mir auf den Tisch sowie einen kurzgewachsenen Bleistift. Ich strich mir über die Bartstoppeln und versuchte auszusehen, als sei ich ein Mitglied des Klans. Ich hatte Bingolokale früher immer mit einer Mischung aus Verwunderung und Neugier betrachtet. Wenn ich ab und zu an dem Eingang eines solchen Lokals vorbeiging, gegen zehn Uhr vormittags, wenn die Leute Schlange standen, um hineinzukommen, hatte ich mich immer gefragt, was diese Etablissements so attraktiv machte, und was für Menschen sie besuchten. Ich fragte mich, wohin sie gingen, wenn die tägliche Bingo-Runde vorbei war – diese wortkargen Ehepaare mit ihren vielen Kaffeetüten unter dem Arm, diese tüchtigen, graugekleideten Damen mit den auf den Kopf gepressten Hüten, als hätten sie Angst, jemand würde sie ihnen wegnehmen und diese schlappen, pickeligen Jungs in den etwas zu kurzen Lederjacken, mit wackligen Knien und latschiger Gangart. Es war etwas Einsames in den Gesichtszügen der Menschen, die am Abend ein solches Bingolokal verließen. Nicht wenige der Gäste waren Frauen reifen Alters wie Elise Blom. Einige von ihnen hatten magere, leidende Gesichter, als hätten sie nur um ein Haar zwanzig Jahre unglücklicher Ehe überlebt. Andere waren übergewichtig und kräftig und eindeutig siegreich aus ihren hervorgegangen. Der auffallend große Anteil an reifen Frauen und an Jungen in den letzten Wachstumsjahren ließ mich darüber nachdenken, ob es hinter dem ganzen ein erotisches Muster gäbe. Vielleicht waren diese Orte eine Art Treffpunkt für Griesgrämige, eine Wegkreuzung, wo die Verirrten aller Generationen sich spontan begegnen konnten.
Meine Gedankenkette wurde unterbrochen, als ein Mann drei Reihen hinter mir, mit zierlichem Mittelscheitel und großem Luftraum zwischen den Zähnen, plötzlich rief: »Bingo!« Er lachte laut und lärmend, als hätte er etwas Amüsantes gesagt. Die Mikrofonstimme verstummte und eine der Lilagekleideten kam herunter und kontrollierte sein Brett. Rund herum an den Tischen klirrte es in den Kaffeetassen. Der Kaffee wurde aus großen, braunweißen Thermoskannen serviert, und wenn man hungrig war, konnte man vakuumverpackte Kopenhagener kaufen. Der Mann, der gewonnen hatte, wählte als Gewinn ein Zweikilopaket Würfelzucker. Vielleicht wollte er ihn zwischen die Zähne stopfen.
Ein kräftiger Mann in Wildlederjacke, dunkelbrauner Hose und schwarzen Schuhen kam aus einem Hinterzimmer, warf einen langen und forschen Blick auf die Versammlung, wechselte ein paar Worte mit der Blondine hinter dem Mikrofon und verschwand. Die Blondine mit dem alten Gesicht schaltete die Lautsprecher wieder ein. Ein neues Spiel begann. Neue Zahlen wurden in die Versammlung hinausgeworfen und mit der gleichen Erwartung entgegengenommen, wie gesalzene Heringe, die man einem Rudel Seehunde in einem Aquarium zuwirft. Um mich herum kratzten Bleistifte und Kugelschreiber. Elise Blom verfolgte das ganze konzentriert und kreuzte an. Ich beobachtete sie. Im Profil war noch immer etwas von ihrer früheren Schönheit sichtbar, wenn auch der Übergang zwischen Kinn und Hals fließender war, als er 195 3 gewesen sein mußte. Sie hatte den Mantel aufgeknöpft, und ihr Körper sah straff und jugendlich aus. Ihr Taille war schlank, was durch einen breiten, braunen Gürtel hervorgehoben wurde, und der weiße Pullover lag eng um die prallen Brüste, die mich an die falschen Profile der 50er Jahre erinnerten. Der braune Rock lag locker über den Knien bis hinunter zu den Knöcheln und zeigte nicht viel von den Beinen.
Wie alt war sie eigentlich? Sie war 1932 geboren, wenn ich mich recht erinnerte. Dann war sie also 49. 1953 war sie 21 gewesen und Harald Wulff 39. Was hatte eine junge, hübsche Bürodame dazu gebracht, sich in einen achtzehn Jahre älteren Mann zu verlieben, der Bürobote war, wegen Kollaboration verurteilt gewesen und allem Anschein nach im lokalen Milieu wenig geachtet war. Hatte er Eigenschaften besessen, die sich von den Fotos nicht ablesen ließen und die niemand mir gegenüber erwähnt hatte? Charme – erotische Anziehungskraft –
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