Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
warum sie ihn den Professor nannten.
Es gab so viele Schicksale. Der Professor hatte sein Staatsexamen im Hauptfach Mathematik abgelegt und nur die mündliche Prüfung stand noch aus. Er paukte, was das Zeug hielt, die letzten Tage bis zum allerletzten Examenstag und dann brannte irgendwo in seinem Kopf eine Sicherung durch. Er machte niemals mündliches Examen, verbrachte ein halbes Jahr in einer psychiatrischen Klinik, drei Jahre in einem Sanatorium und kam als ferngesteuerter, lakonischer Roboter wieder heraus, durch Tabletten aufgebaut und von kundigen Reparateuren in Bewegung gesetzt. Aber ganz gesund wurde er nie und trieb in den niederen Gesellschaftsschichten umher wie Leergut auf einer Strömung von Brackwasser. Dreißig Jahre später saß er allein auf dem runden Platz vor der Unteroffiziersschule, in verschlissenen braunen Hosen, eine halbgeleerte Flasche Pils auf dem Boden zwischen den schwarzen Schuhen.
Aber der Blick, den er mir zuwarf, verriet durchaus Intelligenz. Der Professor konnte etwas beunruhigend Waches an sich haben, als würde er eigentlich nur spielen und hätte das dreißig Jahre lang getan, wie ein heruntergekommener Hamlet mittleren Alters. Als hätte er einmal für den Rest des Lebens einen Beschluß gefaßt und hielte nun daran fest.
Ich hatte in weiser Voraussicht auf dem Weg eine Plastiktüte mit Halbliterflaschen Bier gekauft, diskret versteckt hinter den ersten Tageszeitungen. Solche kleinen Fläschchen können in der Gesellschaft, in der ich den Tag zu verbringen gedachte, die reinsten Mauerbrecher sein.
Ich begrüßte den Professor, nahm neben ihm auf der Bank Platz und öffnete ihm zu Ehren die erste Flasche. Um zu zeigen, daß ich einer von den Kumpels war, nahm ich selbst einen ordentlichen Schluck, bevor ich sie ihm hinüberreichte, ohne etwas zu sagen.
Er griff stumm danach, setzte sie an den Mund und leerte sie in einem langen Zug. Dann flammte kurz der Hamlet-Witz in seinen Augen auf, ehe er mir die leere Flasche zurückgab.
»Wie geht’s, Professor?« fragte ich freundlich.
Seine Stimme war rauh. »Och, weißt du, es sickert und fließt.«
Er sprach mit gebildetem Tonfall ohne nennenswerten Dialekt. »Und – selbst auch?«
Ich nickte. Wir saßen eine Weile stumm da. Er schielte auf meine Plastiktüte hinunter.
Ich fischte eine neue Flasche herauf und blieb damit in der Hand sitzen, ohne sie zu öffnen. »Eigentlich war es ›Brandstelle‹, nach dem ich Ausschau hielt …«
»›Brandstelle‹? Was willst du von ihm?«
»Mit ihm reden. Über den Brand.«
»Über diese alten Geschichten? Mein Gott nochmal, Mann!« »Und dann Olga. Die mit Stauer-Johan zusammen war.« »Über sie willst du mit ›Brandstelle‹ reden?« Er klang neugierig.
»Nein, nein. Nach ihr suchte ich auch.«
»Ahso.« Nach einer Denkpause sagte er: »Sie geht ab und zu vorbei, die Olga. Aber sie spricht mich selten an. Wir haben nie zum gleichen Kreis gehört, sozusagen.«
»Zu welchem Kreis gehörte sie?«
»Sie … Sie und Stauer-Johan waren oft für sich allein. Nachdem er verschwand, hat sie sich völlig zurückgezogen. Aber ›Brandstelle‹ …«
»Ja?«
Er machte eine schwere Bewegung mit dem Kopf, wie um einen steifen Nacken zu strecken. »An Tagen wie heute, mit Sonnenschein und so, müßtest du ihn draußen beim Flughafen finden können. Versuch’s mal da, äh …« Ich sah, daß er nach meinem Namen suchte und von der Flasche in meinen Händen abgelenkt war.
Ich öffnete die Flasche und gab sie ihm. »Veum«, sagte ich. Er strahlte ein großes Lächeln, aber wohl kaum über den Namen. Als ich aufstand und ging, hatte er die Flasche schon am Mund. Die Sonne schien durch das braune Glas, in goldenem Widerschein.
Ich fand ›Brandstelle‹ an der Sonnenböschung zum Wasser hin, auf der Pier, die zum alten Wasserflughafen in Sandviken führte. Er war in angenehmer Gesellschaft. Sie waren zwei Paare und vier Flaschen und die Plastiktüten versprachen mehr. Die Böschung bestand aus Steinen, Schotter und spärlichen Grasbüscheln, aber wenn man Mantel und Pullover auszog und unter dem Nacken zusammenrollte, konnte man es sich in der Sonne richtig gemütlich machen. Die Damen waren reichlich aufgeknöpft, und es wogte träge, sowohl zu Land, als auch zu Wasser. Die Sonne schien blitzend in die Kräuselungen vor den Ufersteinen. Links von ihnen, die Sjøgate entlang, lagen die Speicher, rechts der Byfjord, wo weiße Möwen schaukelnd auf den Wellen lagen und die Askøy-Fahre
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