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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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sich vorsichtig von der Stadt zu der Insel dort draußen bewegte. Beide Damen waren im gleichen, unbestimmbaren Alter wie die Kollegin auf der Landungsbrücke, aber die beiden Herren waren definitiv über fünfzig. Der eine war ein Zwerg mit schwarzem Schnauzbart und ein wenig zigeunerhaft; ein vierkantiges Halunkengesicht, das in einer Pariser Seitengasse heimisch ausgesehen hätte, wie das eines Liebedieners in einem belebten Bordell. Er hatte den Oberkörper entblößt, aber die Hosenträger anbehalten. Die Haut auf der Brust war kreideweiß und weiblich und der bucklige Rücken schien ihn nicht zu genieren.
    ›Brandstelle‹ selbst lag auf dem Rücken, die Hände unter dem Nacken und mit zwinkernden Augen. Er trug ein blaugrau kariertes Flanellhemd und eine braune Hose. Er hatte die Schuhe weggeschleudert und spreizte die Zehen durch löchrige Strümpfe. Das Gesicht leuchtete wie eine aufgehende Sonne auf einer japanischen Porzellanmalerei. Die Haut war flammend rot und rissig, die Augen wässerten schwach und er war vollkommen glatzköpfig, als sei ihm das Haar von der Kopfhaut gesengt worden. Ein Blick auf sein Gesicht erzählte mir augenblicklich, welche Tragödie der Pfau-Brand wirklich gewesen war, und ich konnte diejenigen verstehen, die sich gefragt hatten, wer besser dran war; die, die im Brand umkamen, oder die, die überlebten.
    Ich ging vorsichtig die Böschung hinunter und begegnete ihren verwunderten Blicken. Die Damen richteten fast anständig ihre Rocksäume und ich sah, daß sie einen Augenblick glaubten, ich sei ein Bulle, denn der Zwerg schmiß seine Jacke über ein paar der Flaschen.
    »Tut mir leid, daß ich störe«, sagte ich. »Ich weiß nicht, ob ihr mich kennt. Ich heiße Veum und ich werde für die – Mühe bezahlen.«
    Ich streckte die offene Plastiktüte vor und als sie die Bezahlung erblickten, entspannten sie sich zusehends und der Zwerg sagte: »Willkommen im Grünen, wer de auch bis.«
    Ich nahm in der Sonne Platz. Wir saßen eine Weile stumm da. In solchen Kreisen war es nie ratsam, übereilt zu handeln. Diese Menschen hatten es nur dann eilig, wenn fünf Minuten später das Wein-Monopol zumachte. Ansonsten lebten sie ruhig und bedächtig, solange nur eine offene Flasche in der Nähe war. Sie tranken auch nicht unbedingt sehr viel, Hauptsache war, es war irgendetwas zu trinken da. Die Tage waren unterschiedlich, für diese wie für alle anderen Menschen. Manche waren gut, und dann reichte ein Bier, oder zwei. Andere Tage waren schlimm, und dann reichten zwei Flaschen Schnaps nicht aus.
    Es war zu dieser Tageszeit ein stiller Ort. Der Verkehr von und nach Åsane war gering, und es war lange her, daß in Sandviken viele Boote anlegten, um zu löschen. Hinter uns erhoben sich die Fjellhänge, rund und mollig zum Fløyen hin, auf der Südseite des Skredderdal; steil und dunkel in Richtung Sandviksfjell und Sandvikspil, der standhaft die Windrichtung anzeigte. Der Sonnenschein spiegelte sich in den Glasscheiben am Fjellhang und oben auf einer Felskuppe wuchtete wie ein steingraues Dracula-Schloß auf einer Bergzinne die Rothaugen Schule.
    Ich saß die Hände um die Knie gelegt und wandte den Blick hinaus aufs Meer. Die Wellen flimmerten auf Nordnespynten zu, wo Ballangen wie ein vorsichtiger großer Zeh die Temperatur des Wassers prüfte. Ein Westamaran kreuzte auf dem Weg nach draußen, stieg wie ein riesiges Meerestier genau vor Pynten aus dem Wasser, brüllte häßlich gegen den Spätsommerhimmel und stapfte auf hohen Stelzen südwärts in Richtung Sunnhordaland und Stavanger.
    Ich sagte: »Eigentlich wollte ich hauptsächlich mit dir sprechen, ›Brandstelle‹.«
    Er blinzelte mich mit schmalen Augen an. »Ahja? Und über was?«
»Über das, was damals passiert ist.«
»Wann damals?«
»Als es brannte, 1953.«
Er setzte sich abrupt auf und es knisterte trocken in der Gesichtshaut, als er eine Grimasse schnitt. »Über den Brand?«
»Es sind da Dinge aufgetaucht. Ich habe mit Sigrid Karlsen gesprochen, der Witwe von Holger Karlsen. Und ich habe mit anderen geredet.« Ich beugte mich vor. »Du bist der einzige, der übrig ist. Der noch lebt. Das weißt du, oder?«
Plötzlich sperrte er die Augen auf und betrachtete mich mit starrem Blick. »Doch, das weiß ich. Ich seh’s im Spiegel, jeden Morgen. Ich hab das jetzt bald dreißig Jahre lang jeden Morgen gesehen. Verstehst du?«
Ich nickte hilflos. »Ja.«
»Das hat mir das Leben weggenommen. Ich war ein ganz normaler, ordentlicher

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