Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
war bei weitem nicht so unangenehm, wie ich befürchtet hatte. Das harte Sommertraining hatte sich ausgezahlt und das Tempo hatte mich auch nicht kaputtgemacht.
Draußen vor meinem Bürofenster lag die Stadt mit klaren, sonnengezeichneten Konturen, von einem morgenfrischen Kunstmaler gemalt, Verschwendung von Farben. Auf dem Markt dominierten die Obststände: goldene Apfelsinen, rotglänzende Äpfel, Birnen so grün wie der Garten Eden. Auf dem Fischmarkt strahlte es weiß in offenem Fisch und die Markthändler standen mit breiten Fäusten in großen Hosentaschen und starrten mit lüsternen Blicken den Frauen nach, die vorübergingen. Direkt unter meinem Fenster, bei den Gemüsehändlern, war Hochsaison. Der Porree streckte sich brünstig, die Kohlköpfe schwollen wolllüstig und über den schneeweißen, frischen Zwiebeln lag eine verspätete Sommerfreude. Die Geschäftigkeit zwischen den Ständen war groß. Der Umsatz würde erfreulich sein. Aber oben bei mir war es still. Niemand sucht am Montagmorgen Privatdetektive auf. Die meisten warten bis Dienstag.
Da, wo ich saß, hatte ich Bergen in Miniatur vor mir. Von den Einkaufenden im Zentrum – auf dem Markt und in den Läden drumherum – über Bryggen zu dem neuen Riesenhotel, das noch nicht fertig war. Am Fjellhang von der Øvregate bis nach Sandviken hinaus lagen die alten Arbeiterviertel, kleine Holzhäuser in den gewundenen Gassen zwischen Øvregate und Skansen, hohe, graue Bergenser Stadthäuser die Vestlidsalmenning entlang und bis nach Sverresborg. Fjellien und Fjellvei entlang lagen die großen, unwirtlichen Villen aus der Zeit des Ersten Weltkrieges, früher einmal Herrschaftshäuser, heute hauptsächlich bewohnt von Rentnern oder Leuten, die sie geerbt hatten. Am Berg darüber wiederum, südlich, in Richtung Ulriken, lagen in Starefossen die Häuser der Neureichen aus den 50er Jahren, mit gekalkten Fassaden, die im Sonnenlicht leuchteten, mit Aussicht über den größten Teil der Stadt und, hinter den Bäumen verborgen, sogar einem friedlichen kleinen Tennisplatz, auf dem junge Menschen in weißer Kleidung dynamisch Sonntagssport für Bessergestellte betrieben. Noch weiter oberhalb davon aber lag Jedermannsland: Fløyen und der Naturpark dort oben, mit schmalen Pfaden zwischen den Bäumen, wo du auf gedämpftem Kiefernadelboden gehen und dich von der Sülle erfüllen lassen, zu plötzlichen Aussichtspunkten finden und Hand in Hand durch laue, blinde Sommerabende gehen konntest, mit jemandem, den du liebhattest, falls du jemanden hattest.
Und als natürlicher Kontrast zu all den trauten Heimen den Fjellhang hinauf, stand eine verwahrloste Versammlung von Stadtstreichern unten auf der Landungsbrücke am Markt und ließ eines der ersten Biere dieses Tages die Runde machen. Dorthin wollte ich. Von dort führte der Weg weiter, zurück bis 1971 und vielleicht ganz bis 1953.
Die Obdachlosen von Bergen haben ihre festen Sammelpunkte, und die meisten von ihnen sind mit diesen Orten verbunden und sammeln sich dort fast wie eine Familie. Es sind immer dieselben Gesichter.
Einer dieser Orte ist die Landungsbrücke am Markt, ein anderer, an kalten Tagen, hinten bei der Korskirke. Frühmorgens an regnerischen Tagen kannst du sie unter der Leeseite des Dachs draußen bei Schuppen 12, am äußersten Ende des Strandkais finden. Später am Tag findest du sie in der Gegend um Marken und die Kong Oscarsgate. Die meisten wohnen in der Herberge der Inneren Mission in der Hollendergate; einige übernachten regelmäßig in der Ausnüchterungszelle.
Ein dritter Platz ist der Theaterpark und das Rondell vor dem Theater. Einige findest du im Nygårdspark und unten bei Møhlenpris, einige wenige in der Umgebung Viken – Danmarksplass, während sich ein großer Zweig der Familie an verschiedene Orte in Sandviken hält, rund um die Herberge der Heilsarmee in der Bakkegate und das neue Blaukreuzler-Heim draußen bei Rothaugen.
Die Obdachlosen sind nie schön anzusehen und es ist nichts Romantisches an ihnen. Sie haben von Suff, psychischen Problemen, Tablettenmißbrauch und Gewalttätigkeit gezeichnete Gesichter, blaurot verfärbt, oft zerschlagen, entweder nach Prügeleien oder durch Stürze im Rausch. Mit der Polizei haben sie eine Art friedlicher Übereinkunft, die meisten Gewalttätigkeiten geschehen innerhalb des Milieus, wegen unbezahlter Schulden oder Streit um eine Flasche. Die Männer sind unrasiert, die Frauen haben schlechte Zähne. Ihr Haar ist zerzaust, die Kleider
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