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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Nichts. Die Lippen waren blaurot, unter einer dünnen Schicht Lippenstift.
    »Nichts?« sagte ich, ohne besonderen Tonfall. Herr Nichts war wohl nur auf der Durchreise? sagte eine dunkle Stimme irgendwo in mir. Herr Nichts hat nur die gesamte Wohnung auf den Kopf gestellt und nun ist er weg. Ein Gast aus der Vergangenheit – ein Flüchtling in die Zukunft? – Wer? – hörte ich meine eigene Stimme sagen.
    Wieder sah sie mich stumm an. Die Hände senkten sich jetzt langsam vom Gesicht. Ihre Züge waren erschütternd nackt. Sie konnte nichts verbergen, nicht mit diesem Ausdruck. Plötzlich fielen mir zwei Details von meinem letzten Besuch bei ihr ein. Die Kommode auf dem Flur: die Farbe war an einer Ecke abgeschabt. Und der Spiegel: es war ein Sprung quer hindurchgegangen.
    Ich sagte vorsichtig: »Das ist doch nicht zum ersten Mal passiert, oder?«
Sie schüttelte stumm den Kopf. Ein weißes Taschentuch war in ihrer einen Hand aufgetaucht. Sie wischte sich vorsichtig unter den Augen, über die Wangen, hinunter zur Oberlippe.
»Jemand, den du kennst … Ein Mann?«
Sie sah mich erschrocken an, wurde rot und schüttelte verneinend den Kopf. »Nein, nein«, sagte sie dünn. Es war eine verschreckte Stimme, gequält und anders als beim letzten Mal.
Und dann wußte ich die Antwort, bevor ich die Frage stellte:
»Deine Tochter?«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Lippen begannen zu zittern. Das Taschentuch kam wieder hervor.
Sie weinte. Ich trat ganz ins Wohnzimmer, leise, wie auf Moos. Ich bewegte mich zum Fenster hin und sah nach draußen auf die Straße hinunter. Die Pflastersteine waren flach und abgeschliffen. Die Häuser hatten müde Fassaden. So kleine Häuser – so viele Menschen – so vieles, was man nicht weiß.
»Ist sie … Hat sie das oft?«
»Es – es kommt über sie. Nicht oft. Sie ist in Behandlung gewesen und es geht gut – bei der Arbeit. Da funktioniert sie, aber dann, dann – irgendwo muß sie es ja rauslassen, nicht? Die Ärzte sagen, sie sei schizophren. Sie hat Medikamente genommen, aber …« Ihre Hände flatterten lautlos vor ihr her, wie Schmetterlinge an einem plötzlichen Frosttag.
»Ich sehe es an ihren Augen, wenn sie nach Hause kommt. Und dann passiert es einfach. Sie ist zu stark für mich, ich komme nicht gegen sie an … Dann wirft sie alles um, reißt herunter und zerschlägt, was sie zu fassen kriegt, und – verschwindet. Zum Abend kommt sie zurück; dann ist es vorbei. Wenn es allzu schlimm wird, geht sie selbst in die – Anstalt. Bekommt stärkere Medikamente eine zeitlang, kommt zurück – meine arme kleine Anita … Meine Kleine.«
Unsere Augen begegneten sich. Ja, kleine Kinder werden groß, aber für die Eltern bleiben sie immer klein, und ganz besonders, wenn sie Probleme haben. »Haben sie – Haben die Ärzte jemals gesagt, was die Ursache sein könnte?«
»Daß sie so früh den Vater verlor, und auf eine solche Weise. Und all das Häßliche, was in den Jahren danach geredet wurde. Sie mußte es irgendwo verstecken, und flüchtete in – eben das.« Es kam mechanisch, wie eine nüchterne Konstatierung von Fakten. Aber in der Ausdrucksweise lag viel verhaltene Raserei. Und die Botschaft erreichte mich: Anita Karlsen, die zu der Zeit, als Pfau brannte, erst vier Jahre alt gewesen war, war noch ein weiteres Opfer dieses unglückseligen Geschehens.
Sigrid Karlsen hatte aufgehört zu weinen. Plötzlich ballte sie die Fäuste und stand auf. »Ich muß wohl anfangen, aufzuräumen.«
»Ich werde dir helfen«, sagte ich schnell.
Sie sah mich fest an. »Ich möchte es am liebsten allein tun.« Dann erklärte sie versöhnlich: »Ich will nicht, daß jemand hier ist, wenn Anita zurückkommt. Sie ist immer so beschämt, hinterher.«
Ich nickte. »Ich verstehe.«
»Wolltest du etwas Bestimmtes?« fragte sie. »Wenn du schon hergekommen bist?«
»Ja, das wollte ich sicher. Aber ich hab vergessen, was. Ich hab wirklich einen richtigen Schock gekriegt. – Eine Weile hatte ich geglaubt, ich würde hier das gleiche vorfinden, wie am Abend zuvor, draußen, bei Olga Sørensen. – Ich möchte nur sagen, Frau Karlsen, daß ich immer noch mit dieser Sache arbeite, und ich bin mehr und mehr überzeugt davon, daß dein Mann nicht die geringste Schuld an dem hatte, was damals passiert ist, und ich lasse nicht locker, bis ich dem auf den Grund gekommen bin. Sag das Anita, wenn du meinst, daß es paßt – sag, ich wüßte, daß ihr Vater unschuldig war.«
Sie sah mich mit traurigen Augen

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