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Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Im Dunkeln sind alle Wölfe grau

Titel: Im Dunkeln sind alle Wölfe grau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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verstreut, und ihr Leben in der Sonne leben, vor flackernden Kaminfeuern, fern vom Lärm und Krach der Maschinen, jenseits aller Sorgen. Sie hatten die Macht, die das Geld ihnen gab, und es erforderte eine andere Gesellschaftsordnung, ein anderes System, um sie zu erreichen.
Die einzige Chance, sie zu erwischen, war, daß du mit konkreten, handfesten Beweisen auftrumpfen konntest. Und die hatte ich nicht. Ich hatte nicht einmal eine Theorie.
Sehnsuchtsvoll betrachtete ich Hagbart Helle, dachte an all die Fragen, die ich ihm gestellt hätte, Behauptungen, die vielleicht eine Reaktion provoziert hätten, bevor mir der Wachhund an die Gurgel sprang. Aber tief im Inneren wußte ich auch, daß es aussichtslos wäre. Hagbart Helle hatte sich sicher aus dem schmutzigen Fahrwasser heraus und auf die großen, stillen Meere manövriert; er hatte internationale Vorstandskonferenzen beherrscht, kampflustige Kollegen … Er ließ sich nicht provozieren. Er saß dort drinnen sicher in seinem warmen Sessel, ein halbvolles Schnapsglas in der Hand und das leicht starre Lächeln um den ehrgeizigen Mund. Er hatte sein Ziel erreicht. Er war aus dem Schneider.
Der Bruder war ein anderer Typ. Yngvar Hellebust war der gewöhnliche, heimische Kapitalist, ohne sichtbare Ambitionen. Dem Aussehen nach hätte er Finanzbeamter sein können, aber zufällig leitete er eine mittelgroße und – seinem Einfamilienhaus nach zu urteilen – durchaus florierende Trikotagen-Fabrik. Trotzdem lagen Lichtjahre zwischen ihm und Hagbart Helle: der Unterschied zwischen Provinz und Metropole, zwischen Jungsclub und Mafia.
Oder war es vielleicht doch der Hund, der mich zurückhielt? Er hielt noch immer den Kopf erhoben, auf dem kräftigen, schwarz-braunen Hals. Er hatte starke Kiefer und scharfe Zähne. Von Natur aus war er Jäger und Mörder. Ich hätte keine Lust gehabt, draußen im Herbstdunkel mit ihm um die Wette zu laufen.
So langsam wie ich gekommen war, zog ich mich zurück.
Ich warf noch einen letzten Blick auf Hagbart Helle. Dann trat ich leise wieder vom Fenster zurück, stieg langsam durch die Steinbeetblumen hinunter, schlich still an der Hauswand entlang, an den Gartenmöbeln vorbei, den knorrigen Obstbäumen, und tauchte wieder unter der Hecke hindurch.
Die Nacht verdichtete sich um mich herum, wie ein dunkler Sack. Ich hatte keine Ahnung, was ich nun anfangen sollte.
38
    In dieser Nacht ging ich nicht nach Hause.
    Ich fuhr den Fjøsangervei in Richtung Zentrum, aber es war unmöglich, zu sehen, wo die Farben-Fabrik Pfau gelegen hatte. Die Wunden waren verheilt. Neue Häuser waren entstanden.
    Ich parkte den Wagen auf dem Tårnplass und ging zum Büro hinunter. Einen Augenblick zögerte ich vor dem Eingang zu Hjalmar Nymarks Stammlokal, aber ich ging weiter.
    Oben im Büro tastete ich mich in der Dunkelheit zum Schreibtisch vor, öffnete die unterste Schublade, schraubte den goldenen Verschluß von der neuen, blanken Flasche, goß in ein Glas – und trank.
    Ich trank nicht viel, nicht mehr, als ein gewöhnliches Wasserglas, und ich ließ mir Zeit. Es schmeckte wie nach Mondschein, und die Zunge wand sich, wie eine Schlange bei der Häutung. Ich trank auf alle verlorenen Vorsätze, alle torpedierten Ideale, trank auf alle, die vorbeigegangen waren, die ich gekannt hatte und die wieder in der Dunkelheit verschwunden waren. Ich trank auf neuerrichtete Grabsteine, auf alte Brandstellen und kleinlaute Rückzüge. Skål, tapferer Ehrenmann, skål!
    Später – in der Nacht – verließ ich das Büro und ging in die Stadt. Mitternacht war vorüber und in den Straßen herrschten die Schatten, die Schatten und die Eiligen, mit gesenkten Blicken. Ich hatte es nicht eilig und meine Augen waren wachsam.
    Ich ging durch Nordnes, unter den hohen Betonfassaden der Strandgate, bis hinaus zum Park. Wieder kam ich an der Stelle vorbei, wo an einem Januarabend 1971 ein hinkender Mann ermordet worden war. Aber ich blieb nicht stehen. Ich ging weiter. Von der Landspitze herauf kam ein Mann in braunem Mantel, mit grauem Bart und einem Airdaleterrier an der Leine. Sonst traf ich keinen Menschen.
    Die See lag öde und schwarz da. Nicht ein Schiff war zu sehen.
Ich ging wieder zurück, am Seebad vorbei, das still und verlassen war, wie ein Monument des Sommers, der nie so ganz dagewesen war, vorbei an der Steuermannschule und Nordnes Schule vorbei.
Zu dieser Tageszeit durch die Stadt zu gehen, war wie ein Gang durch eine Ausstellung der Stadien deines eigenen Lebens.

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