Im Dunkeln sind alle Wölfe grau
Kollaborateur, den sein Schicksal eingeholt hatte, 26 Jahre, nachdem der Krieg in Norwegen zuende ging - Aber war er wirklich so gewesen? Oder war es ein anderer, der ums Leben kam? Noch ein unschuldiges Opfer? Und wo war in diesem Fall der Mann, der den Namen Harald Wulff trug?
Zehn Jahre waren wieder vergangen seit damals. Was es an Spuren gegeben haben mußte, war längst verschwunden. Zehn Winter war Schnee gefallen und wieder getaut, hatte die Sonne geschienen und der Regen gespült. Die Spuren waren kalt, so kalt, wie sie nur sein konnten. An diesem Tatort gab es nichts zu holen, und mit der Sonne schräg von rechts ging ich weiter, wieder in die Stadt zurück.
Bei der Nykirke bog ich nach rechts ab. Ich hatte ein paar Dinge, nach denen ich Sigrid Karlsen fragen wollte.
Ich sah zu ihrem Fenster hoch, als ich mich dem Haus näherte, aber da war kein Zeichen von Leben. Ich sah auf die Uhr. Sie mußte jetzt zuhause sein.
Die Haustür stand offen, als hätte jemand vergessen, sie zu schließen, und ich ging hinein. Als ich in den ersten Stock kam, sah ich, daß auch die Tür zu ihrer Wohnung einen Spalt offen stand.
Ein Stoß durchfuhr mich. Etwas stimmte nicht.
Ich drückte auf die Klingel und klopfte gleichzeitig hart an die
Tür. Sie ging langsam auf.
Im Vorflur herrschte Chaos. Die kleine Kommode lag umge
stürzt am Boden und jemand hatte die Schubladen herausgezogen und den Inhalt im Raum verteilt. An der Wand lag, in Stücke zerbrochen, der Spiegelrahmen. Die Teile des zersprungenen Spiegels lagen über den Boden zerstreut, wie
helle Gucklöcher hinunter in eine andere Welt.
Ich setzte die Füße vorsichtig in das Durcheinander. Mit Kälte im Körper sagte ich dünn: »Hal – lo?«
Niemand antwortete. Alles war still.
36
Ich öffnete vorsichtig die Tür zur Küche. Das Herz klopfte hart in meinem Hals. Dort war dasselbe Durcheinander. Der Kalender war von der Wand gerissen und lag im Ausguß. Das Bild von dem spielenden Kind und dem Hund war zusammengeknüllt und auf die Anrichte geschmissen. Das Kofferradio lag auf dem Boden, mit dem Rücken nach oben. Der Küchenstuhl war umgeworfen. Hinten unter der Bank lag eine Plastiktüte mit Abfall. Kartoffelschalen und Eierschalen waren über den Boden verstreut. Gleichzeitig roch es stark nach Putzmittel, aber ich konnte nicht sehen, woher der Geruch kam.
Die Tür zum Wohnzimmer stand halb offen. Es war dunkel dort drinnen, aber die Verwüstungen waren, soweit ich sehen konnte, nicht so groß. Der Fernseher war umgeworfen und der Stecker aus der Wand dahinter herausgerissen. Ein Blumentopf lag zerbrochen auf dem Boden. Eine der Gardinenstangen hing schief, so daß die Gardinen auf der einen Seite auf den Boden reichten. Eine Handvoll Bücher aus dem Regal lag verstreut herum. Und in dem einen Lehnstuhl, das Gesicht hinter den Händen verborgen und mit zusammengekrümmtem Körper saß wie festgefroren Sigrid Karlsen. Sie bewegte sich nicht. Nur ein schwaches Zittern der Schultern zeigte, daß sie lebte.
Wie wenn man einen Menschen in einer intimen Situation überrascht – nur eben der Trauer statt der Liebe. Das eine kann ebenso peinlich sein wie das andere. Und es ist nie leicht, wenn man als Fremder in so etwas hineingerät. Ich beugte mich hinunter und hob das Radio auf, stellte es auf die Anrichte und schob es bestimmt zur Wand, um durch die Geräusche zu demonstrieren, daß ich da war. Dann ging ich langsam zur Tür, blieb mit großen, hilflosen Händen stehen und sah sie an. Graues Sonnenlicht war in ihrem Haar. Was ich vom Nacken sah, war weiß und nackt. Sie trug ein helles, graues Kleid mit einem einfachen, braunen Gürtel, der wie ein Strick um die Taille gebunden war. »Frau Karlsen?« sagte ich behutsam. »Ich bin’s, Veum.«
Sie nahm die Hände nicht vom Gesicht. Aber sie richtete ihren Rücken eine Spur auf, so daß ich verstand, daß sie mich gehört hatte.
Ich blieb stehen und wartete.
Langsam spreizte sie die Finger und ich konnte ihre Augen zwischen den langen, weißen Gliedern schimmern sehen. Sie waren dunkel, rot umrandet. Dünne Streifen zeigten, wo die Tränen ihre Wangen hinabgelaufen waren. Ihre Brille sah ich nicht. Mein Blick glitt automatisch über den Boden, aber dort lag nicht mehr, als ich von der Küche aus gesehen hatte.
»Was ist passiert?« fragte ich und zeigte auf das Durcheinander im Zimmer, als könne sie im Zweifel darüber sein, was ich meinte.
Sie schüttelte den Kopf. Der Mund antwortete stumm:
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