Im eigenen Schatten
schlicht und ergreifend noch einmal eine Chance, die ihm andere verwehrten. Freundschaft, Sympathie, Menschenkenntnis, Heimatverbundenheit. Nennen Sie es, wie Sie wollen.« Gertraud nahm einen Schluck Wasser.
»Ein Philanthrop also. Nachdem Sie mir nicht sagen können, wer den letzten Abend mit Ihrem Vater verbracht hat, meine Damen, würde ich nun gerne mit seiner ersten Frau sprechen.«
Gertraud griff zum Telefon und sagte der Chefsekretärin, dass sie Donna Rita Carli in den Konferenzsaal bitten möge. »Was passiert mit dem beschlagnahmten Material, Commissario?«, frage sie dann.
Laurenti zuckte die Achseln. »Darüber wird der Staatsanwalt entscheiden. Rechnen Sie nicht mit einer Freigabe, bevor die Untersuchungen abgeschlossen sind. Warum?«
»Die Daten auf seinem Computer«, sagte Magdalena. »Können wir wenigstens eine Kopie der Festplatte haben?«
»Wir müssen den Betrieb ohne Verluste weiterführen können, Signor Laurenti«, fügte ihre Schwester hinzu. »Wie gesagt, wir wissen derzeit nicht, ob wir Kenntnis von allen Vorgängen haben, die er allein verwaltete.«
Wie auf ein unsichtbares Kommando erhoben sich die Zwillinge gleichzeitig. Magdalena reichte ihm als Erste die Hand.
»Meinen Sie die Schuldscheine, die Ihr Vater im Flugzeug dabeihatte?«, fragte Laurenti, als sie schon in der Tür waren.
Gertraud und Magdalena blieben wie versteinert stehen und wandten sich um.
»Sie sind demnächst fällig. Eine Fotokopie können Sie selbstverständlich haben. Aber erst, wenn unsere Kollegen in Bozen die Schuldner befragt haben und diese ein Alibi vorlegen können. Das werden Sie verstehen. Die paar Zinsen können warten, bis wir den Täter gefasst haben.«
»Nochmals, Papa hat keine Zinsen verlangt. Er hat sich sein Entgegenkommen nur besichern lassen, Commissario.« Gertrauds Blick war kalt. »Übrigens, wir haben viel Verständnis dafür, dass Sie Ihren Job erledigen müssen, und auch uns ist selbstverständlich daran gelegen, dass der Mörder so schnell wie möglich gefasst wird. Aber vielleicht könnten Sie sich mit Ihren Kollegen etwas besser koordinieren. Heute früh war bereits jemand hier und hat sich für die wirtschaftliche Seite unseres Unternehmens interessiert. Fast drei Stunden hat sein Besuch gedauert. Auch wir müssen arbeiten.«
Von wem sprach sie? Laurenti hatte gerade noch Zeit, mit spitzen Fingern die beiden Wassergläser in die Taschen seines Jacketts zu stecken, bevor Donna Rita in Begleitung des Anwalts den Konferenzraum betrat. Wie machte es diese Frau bloß, dass sie immer so perfekt aussah? Ihr Alter konnte Laurenti noch immer nicht schätzen. Er würde Marietta danach fragen, sobald er zurück im Büro war. Auch Galimbertis leichter, dunkelblauer Maßanzug musste ein Vermögen gekostet haben, die Wangenknochen des Anwalts zeichneten markant sein Profil, sein Lächeln war, wie oft bei den Vertretern dieses Standes, grundlos süffisant.
»Das ist wieder typisch«, sagte Donna Rita und wies auf die Wasserflasche auf dem Tisch. »Die Mädchen hätten Ihnen auch Besseres anbieten können. Sie achten auf jeden Cent.«
»Bei der Hitze gibt es nichts Besseres, Signora«, sagte Laurenti, während sie sich setzten.
Doch Spechtenhausers erste Frau hatte bereits den Telefonhörer am Ohr und gab eine Anweisung.
»Ist Ihr Sohn im Haus?«, fragte Laurenti.
»Nick?« Donna Rita kniff die Augen zusammen und schwieg einen Augenblick, als warte sie auf eine Wiederholung der Frage. »Ich verstehe, dass es Ihre Aufgabe ist, mit jedem von uns zu sprechen, Commissario. Doch der arme Junge ist am Boden zerstört. Warten Sie bitte ein paar Tage, bevor Sie ihn befragen. Seit Jahren hatte er keinen Kontakt zu seinem Vater. Er hat ihn erst jetzt wieder kennengelernt. Mit seinem Tod. Bei der Trauerfeier. Als entdecke er einen Fremden. Es war wie ein Schock für ihn, dass die Gäste nur gut von seinem Vater sprachen, den er selbst verteufelt und für das eigene Unglück verantwortlich gemacht hat. Nikolaus ist sehr sensibel, beachten Sie das bitte, ich bin in steter Sorge um ihn.«
Donna Rita unterbrach sich, als Ottilie Runggaldier, die gute Seele des Imperiums, ein Tablett mit drei Gläsern, einem Sektkübel und einer Flasche Schaumwein hereintrug.
»Lass nur, Oti«, sagte Galimberti. »Ich mach das schon.«
Fast lautlos schloss die Chefsekretärin die Tür hinter sich, als er die Flasche entkorkte.
»Weshalb bringen Sie zu unserem Gespräch eigentlich Ihren Anwalt mit, Signora?«, fragte
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