Im Fadenkreuz der Angst
erwirken kann, wird Mom in der Schule anrufen und mich dann auf dem Weg zum Gericht abholen.
Trotzdem ist selbst Mom klar, dass die Dinge nicht mehr so sind, wie sie waren. Sie bringt mich früh zur Schule, weil sie befürchtet, dass mir Reporter auflauern,wenn ich alleine mit dem Rad fahre. Es sind nicht mehr viele Reporter da, nur noch einige hagere Typen mit schlechten Tattoos und schicken Kameras: die freiberuflichen Paparazzi der Boulevardpresse. Als wir auf die Straße biegen und die Typen durchs Autofenster knipsen, halte ich mir den Rucksack vors Gesicht. In ein paar Tagen werden die Paparazzi verschwunden sein wie das Absperrband der Polizei.
Mom setzt mich am Haupteingang des Schulgebäudes ab. Ich blicke hoch zu Teddy Roosevelts Statue. Zu seinem Pferd. Ich wünschte ich hätte die Eier, jetzt einfach cool da reinzugehen. Ich renne die Treppe hoch und konzentriere mich darauf, nicht zu stolpern.
Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber sicherlich nicht das, was jetzt passiert. Sonst habe ich eigentlich immer das Gefühl, dass mich alle anstarren, aber tatsächlich tut es keiner. Heute ist es so, als würde mich niemand beachten, tatsächlich aber guckt jeder. Alle stehen im Flur vor ihren Schränken rum und quatschen über das vergangene Wochenende. Sobald sie mich entdecken, verstummen sie und gucken auf ihre Sporttaschen. Kaum bin ich vorbei, wird gepfiffen und geredet.
Den ganzen Tag geht das so. Immerhin schaffe ich es, Fritten-Eddy und seinem Trupp aus dem Weg zu gehen. Zumindest bis zur letzten Stunde.
Ich gehe in den Klassenraum von Mr Bernstein und setze mich auf meinen Platz. Ich bin der Erste. Mr Bernstein nickt mir zu, ganz freundlich, sein Lächeln ist so normal, dass es schon verrückt ist. Denkt er, ich weiß nicht, dass er weiß, was mit Dad ist? Als wäreer ein Marsmensch oder so was? Aber sein Schweigen verrät ihn. Bloß, was sollte er sagen? Wie war dein Wochenende, Sammy?
Nach und nach kommen die anderen. Es ist genau wie auf dem Flur: Irrenhaus total, aber sobald sie mich sehen, benehmen sie sich wie in der Kirche. Nur Eddy nicht. Als der an mir vorbeigeht, zischt er »Osama« und zwinkert unheimlich.
Mr Bernstein legt los. »In den vergangenen anderthalb Wochen haben wir über den Kalten Krieg gesprochen. Darüber, dass man sich vor inneren und äußeren Gefahren schützen muss – einerseits. Andererseits aber muss man im Auge behalten, wie es sich auf unsere Freiheit auswirkt, wenn wir uns in das Reich der Furcht begeben.« Dann führt er andere historische Beispiele für diesen Zwiespalt auf: Die Unterdrückung der Arbeiterbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts, die Überwachung afroamerikanischer Aktivisten vor der Verabschiedung der Bürgerrechtsgesetze und die Internierung amerikanischer Staatsbürger japanischer Abstammung während des Zweiten Weltkrieges.
Und plötzlich hält er inne und sagt: »Jetzt sind Sie dran.«
Stille. Was ist los? Normalerweise gibt’s jetzt Fragen. Argumente. Gedanken, die hin- und herspringen wie Pingpongbälle. Heute nicht.
»Na los.« Mr Bernstein lächelt. »Ich hoffe doch, ich habe irgendwas gesagt, das Sie vor den Kopf stößt.« Immer noch Schweigen. »Kann das sein? Sie sind mit allem einverstanden, was ich gesagt habe? Sie wollen nichts infrage stellen? Ich bitte Sie. Es gibt doch immerirgendetwas, das man infrage stellen muss. Über das man sich aufregt.«
Alle starren auf ihre Tische, als wüssten sie, dass sich etwas zusammenbraut. Dann hebt Eddy die Hand. Nicht aufgeregt oder so. Einfach so, fast gelangweilt. Mr Bernstein wartet noch einen Moment ab, um sicherzugehen, dass Eddy sich nicht bloß streckt.
»Mr Harrison«, sagt er. »Was kann ich für Sie tun?«
Eddy verzieht die Lippen. »Na ja, Sir, wir verstehen schon, warum Sie immer über Minderheiten und so was reden. Aber was ist, wenn es
notwendig
ist, dass wir so eine Minderheit überwachen? Wenn das ein richtig gefährlicher Feind ist?«
»Früher«, sagt Mr Bernstein, »hat man von jeder Gruppe, die ich erwähnt habe, gedacht, sie müsste überwacht werden.«
»Aber das ist heute anders, oder, Sir?« Er sagt das kühl, wie eine Feststellung. »Wenn man Krebs hat, dann tut man doch nicht so, als wäre er nicht da, oder, Sir? Nein. Man schneidet ihn raus.«
Es wird totenstill. Ich packe einen Bleistift, senke den Kopf.
»In unserer Gesellschaft gibt es keine Sippenhaft mehr, Mr Harrison«, sagt Mr Bernstein ruhig. »Wir richten nur über Einzelpersonen, nicht
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