Im Feuer der Nacht
Bericht?“
„Steig ein, zum Teufel noch mal.“
Talin stieg ein und spürte tiefen Ekel vor sich selbst. Clay hätte nie erfahren sollen, wie tief sie gesunken war, aber sie hatte keine Kontrolle mehr über ihre Worte gehabt, als wolle ein Teil von ihr doch, dass er Bescheid wusste. Nun wusste er es. Und wenn jemals eine Chance für sie beide bestanden hatte, dann war sie jetzt für immer dahin.
Sie konnte ihm keinen Vorwurf machen. Die Therapeutin, zu der sie ein paarmal gegangen war, nachdem sie mit ihrer Arbeit für die Kinderorganisation Shine angefangen hatte, hatte ihr versichert, ihr Agieren als Teenager und junge Erwachsene sei eine nur allzu verständliche Reaktion gewesen, die man oft bei Opfern von Missbrauch beobachten konnte. Sie hatte gesagt, es sei eine Möglichkeit, sich selbst zu verletzen, Talin brauche sich dafür nicht zu schämen. Doch selbst nach acht Jahren des Zölibats, abgesehen von–
Nein, sie wollte nicht mehr an jene Zeiten erinnert werden. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten. Vor acht Jahren hatte sie die Therapie beendet, vor acht Jahren hatte sie damit begonnen, ihren Körper als etwas Gutes zu behandeln, etwas Wertvolles, vor acht Jahren… aber sie war sich immer noch nicht sicher, ob die Therapeutin wirklich recht gehabt hatte.
Vielleicht war sie ja die Schlampe, zu der Orrin sie hatte machen wollen. Vielleicht lag es an ihren Genen. Das Krankenhaus, in dem ihre Mutter sie als Baby zurückgelassen hatte, war kostenlos gewesen, die meisten seiner Patientinnen waren Prostituierte. Orrin hatte sie immer die Tochter einer Hure genannt. Wie die Mutter, so die Tochter.
„Wo wohnst du?“
Die kalte Frage ließ sie zusammenfahren, sie hatten bereits die Vororte von San Francisco erreicht. Mit trockenen Lippen und einem Gefühl von Watte im Mund lotste sie ihn zu dem schmalen Hochhaus, in dem Shine eine Wohnung für sie gemietet hatte. „Danke“, sagte sie, als er vor dem Eingang parkte.
„Hier.“ Er warf ihr die Schlüssel zu. Nur den Bruchteil einer Sekunde später war er aus der Tür und verschwunden, ein zutiefst getroffenes Wesen, das mit dem aufsteigenden Nebel verschmolz. Ihre Augen brannten, als sie auf den Fahrersitz rutschte und den Jeep in die unterirdische Garage fuhr.
Clay war von ihr angewidert.
Tief aus ihrer Kehle stieg ein Schluchzen empor, während sie in der schummrigen Beleuchtung der Garage saß. Selbst als Clay damals das schreckliche Geheimnis entdeckt hatte– nur Augenblicke, bevor er Orrin getötet hatte–, war nie ein Vorwurf in seinem Blick gewesen. Er hatte ihr Briefe aus dem Gefängnis geschrieben, ihr beteuert, sie sei immer noch seine Tally, das Beste in seinem Leben. Diese Briefe hatten sie viele Jahre lang aufrecht gehalten, länger, als Clay je erfahren würde.
Aber jetzt… jetzt machte er ihr Vorwürfe, was aus ihr geworden war. Warum auch nicht? Er hatte vier Jahre lang in einem Käfig verbracht, damit sie aus einem Albtraum entkam, und was hatte sie getan? Sie hatte auf sein Geschenk gespuckt, es wie billigen Flitter in die Ecke geworfen. Kein Wunder, dass er sie jetzt verabscheute.
Es schien ihr keine ausreichende Entschuldigung zu sein, dass sie in dieser schrecklichen Zeit danach dem Wahnsinn nahe gewesen war.
Sie legte ihren Kopf auf das Lenkrad und weinte.
5
Ashaya Aleine war eine M-Mediale mit neun Komma neun Punkten auf der Skala. Ein außergewöhnlicher Wert. Die meisten Medialen mit solchen Kräften legten die null Komma eins zu und wurden Kardinalmediale. Bei diesen hörte jede Wertung auf. Manche besaßen zwar größere Kräfte als andere, aber alle hatten dieselbe Augenfarbe– schwarzer Samt mit weißen Sternen.
Unverwechselbar. Unvergesslich.
Ashaya war keines von beiden. Ihre Augenfarbe war ein gewöhnliches Graublau, und ihre Haare waren schwarz. Sie hatte zwar Locken, aber wenn sie sie zu einem festen Knoten band, waren sie ebenfalls unscheinbar. Die dunkelbraune Haut war auch nichts Besonderes im Genpool der Medialen. Aber sie durfte nicht nur an die Medialen denken. Wenn ihr Plan funktionieren sollte, musste sie auch für Gestaltwandler und Menschen unsichtbar werden, eine sehr viel schwierigere Aufgabe.
Auf dem transparenten Schirm ihres Computers leuchtete das Zeichen für einen Anruf auf. Als sie antwortete, erschien das Gesicht einer Frau mit mandelförmigen Augen und glattem schwarzem Haar. „Ratsfrau Duncan. Was kann ich für Sie tun?“
Nikita Duncan legte den elektronischen Stift aus der Hand.
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