Im Feuer der Nacht
keine spezielle Verbindung zu San Francisco. Warum bist du hierhergekommen?“
„Um Jonquil unterzubringen. Er ist vierzehn, ehemaliges Gangmitglied. Das sollte ein neuer Anfang für ihn sein.“ Ihre Stimme brach.
Clay stand auf, ging um den Tisch herum und zog sie zu sich hoch. Seine Nähe brachte sie aus dem Gleichgewicht, flößte ihr aber auch gleichzeitig Mut ein. „Clay!“
„Warum bist du zu mir gekommen?“
Sein Zorn stand wie eine Wand zwischen ihnen. „Vor zwei Wochen war ich endlich sicher, dass du wirklich hier lebst, aber–“ Nein, dachte sie. Das war genug. Clay verdiente absolute Ehrlichkeit, selbst wenn es alte Wunden wieder aufriss. „Jonquil ist verschwunden.“ Und sie hatte genau wie schon tausendmal vorher nur einen Gedanken gehabt: Sie brauchte Clay. Aber diesmal war er in Reichweite gewesen.
Er legte ihr die Hand um den Nacken. „Warum bist du so sicher, dass die Mörder ihn haben? Eine deiner Ahnungen, Tally?“
Sie spürte einen Kloß im Hals, weil er sie ohne Worte verstand. Außer ihm hatte das noch nie jemand getan. „Klar.“ Sie wehrte sich nicht gegen seine besitzergreifende Geste, sondern lehnte sich gegen die Hand, spürte die Wärme und die Kraft. „Wir hatten einen Streit, bevor er weggelaufen ist. Ich habe die Geduld verloren, Clay.“ Sie hatte gerade wieder einen kleinen Anfall gehabt, hatte Angst, ihr bliebe nicht mehr genügend Zeit, um diesem klugen, verletzten Jungen zu helfen. „Ich habe meine Enttäuschung an ihm ausgelassen.“
„Teenager rauben einem den letzten Nerv.“ Pragmatisch. Eigenartig wohltuend. „Er war also sauer auf dich?“
„Ja, aber mein Gefühl sagt mir, er hätte sich schon längst mit mir in Verbindung gesetzt, wenn er es könnte– und sei es auch nur, um mir eins auszuwischen. Er war kein Engel, aber er ist eins meiner Kinder.“ Was der Junge überlebt hatte, was er getan hatte, ohne darüber verrückt zu werden, daran konnte sie nur mit Demut denken.
Clays Hand schloss sich fester um ihren Hals, warm, fest… und plötzlich auch gefährlich. „Wann ist der Junge verschwunden?“
Sie bewegte sich nicht, obwohl ihr Verstand in Panik ausbrechen wollte, weil sie dem Raubtier so ausgeliefert war. „Vor vier, vielleicht auch sieben Tagen“, sagte sie und versuchte sich zu konzentrieren. „Ich habe seine Spur verfolgt, nachdem seine Pflegefamilie mich über sein Verschwinden informiert hatte. In den ersten drei Tagen ist er ziemlich sicher gesehen worden, danach nicht mehr. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.“
Clays Kopf fuhr hoch. „Wir haben Besuch.“
Eine eigenartige Furcht legte sich auf ihre Brust, und sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. „Dein Rudel?“ Leute, die ihm etwas bedeuteten, aber sie nicht notwendigerweise mögen mussten. Wahrscheinlich sogar eher ablehnten.
„Ja.“ Clay ließ sie los. „Warte hier. Und nicht hyperventilieren, Tally.“ Im Bruchteil einer Sekunde war er durch die Falltür verschwunden, mit übermenschlicher Schnelligkeit, aber er war ja auch kein Mensch. Er war ein Gestaltwandler. Er hatte gehört, dass ihr Herz schneller schlug, hatte den Schweiß gerochen, der ihr den Rücken hinunterlief. Manchmal ärgerte es sie, ein Mensch zu sein.
Sie konnte nicht stillsitzen, räumte den Tisch ab und wollte ihn gerade abwischen, als Clay nach ihr rief. Sie holte tief Luft und fühlte sich sehr unsicher, als sie hinunterging. Erst als sie neben Clay stand, hob sie den Kopf. Aber sie wusste nicht, welcher der beiden Fremden sie in größere Furcht versetzte.
11
Obwohl er ganz entspannt an der Wand lehnte, ging von dem Mann– der groß, dunkel und unglaublich gut aussehend war– tödliche Gefahr aus. Und als ihr Blick auf die wilden Narben auf seiner rechten Gesichtshälfte fiel, die wohl von Krallen stammten, wäre sie am liebsten einen Schritt zurückgewichen und hätte sich hinter Clay versteckt. Nur war ihr früherer Spielgefährte eine noch größere Gefahr für sie als dieser lauernde Fremde mit Augen, deren Grün nur ein klein wenig heller war als das Clays.
Immer noch unsicher wandte Talin sich der Frau zu, die dieser Mann im Arm hielt. Die schwarzen Haare hatte sie zu einem langen Zopf geflochten, ihre Haut hatte die Farbe von dunklem Honig, und ihre Augen waren schwarz mit kleinen weißen Punkten. „Sie sind eine Mediale.“ Und nicht nur irgendeine Mediale. Sie war eine Kardinalmediale. Die Augen…
„Ich heiße Sascha.“ Ihr Blick war zurückhaltend. Sie
Weitere Kostenlose Bücher