Im Feuer der Nacht
einen Jungen erinnern«, bemerkte sie knapp, »aber leider nicht an seinen Namen. Er lebt mit seiner Mutter irgendwo im East End. Sie liegt im Sterben.«
Er nickte in Richtung Akten. »Sind das alles künftige Waisen?«
»Ja.«
Es mussten Dutzende sein. Ein ernüchternder Gedanke.
Nach ein paar Sekunden hielt sie inne und schob den Stapel über den Tisch zu ihm. »Sie können die Mädchen raussuchen, alle Kinder unter sechs Jahren und solche, die nicht aus dem East End stammen. Unglücklicherweise finden Sie die Einzelheiten über die Seiten verstreut.«
Pflichtbewusst öffnete er die nächste Akte und überflog sie.
Nach kurzer Zeit hatten sie ein Schema entwickelt: Er sortierte die Mädchen, die jüngeren Kinder und die außerhalb des East Ends aus, während sie sich in die verbliebenen Akten vertiefte und besonders nach solchen Details suchte, die dem Burschen ähnlich waren, an den sie sich erinnerte.
Zehn Minuten verstrichen schweigend. Nach und nach löste sich ihre Anspannung. Schließlich bemerkte sie ohne aufzuschauen und im Tonfall beinahe vorwurfsvoll: »Sie sind eine Stunde zu früh hier aufgetaucht.«
»Sie haben doch nicht ernsthaft geglaubt, dass ich Sie die Arbeit allein machen lasse?«, murmelte er, während er die nächste Akte durchsah.
Aus den Augenwinkeln sah er, wie sie die Lippen zusammenpresste. »Ich hatte mich der Überzeugung hingegeben, dass ein Gentleman aus Ihren Kreisen bis zur Mittagszeit im Bett liegt.«
»Das mache ich auch.« Wenn ich in besagtem Bett in weiblicher Gesellschaft bin und ... »Wenn ich keine Verbrecher jage.«
Barnaby glaubte, ein »Hm« gehört zu haben; aber sie sagte nichts mehr. Er fuhr fort, die Akten auszusortieren. Sie fuhr fort zu lesen.
»Hier ist er.« Sie hob die Akte hoch. »Jemmie Carter. Seine Mutter lebt in einer Behausung zwischen Arnold Circus und Bethnal Green Road.«
Noch einmal las sie die Akte durch und legte sie auf den Stapel.
Er beobachtete, wie sie den Schreibtisch umrundete und ihr Retikül ergriff, fragte sich, ob irgendein erfundener oder tatsächlicher Anlass dem Versuch dienlich sein konnte, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.
Mit erhobenem Kinn eilte Penelope an ihm vorbei zur Tür. »Auf der anderen Straßenseite können wir in eine Droschke steigen.«
Sie warf noch nicht einmal einen Blick zurück, um zu prüfen, ob er ihr folgte; er erhob sich und hielt sich in ihrem Kielwasser.
Eine Viertelstunde später, als sie Seite an Seite in einer altertüm-lichen Kutsche schaukelten und immer tiefer in das Elendsquartier rollten, betrachtete Barnaby die baufälligen und verrotteten Fassaden. Schon die Clarkenwell Road war schlimm genug gewesen, und freiwillig hätte er niemals mit einer Lady diese Gegend aufgesucht.
Er lehnte sich zurück und musterte Penelope. Sie klammerte sich an eine Schlaufe und ließ den Blick nach draußen über die heruntergekommenen Straßen schweifen.
Barnaby konnte nicht genau den Finger darauflegen, aber irgendetwas hatte sich verändert. Er hatte mit Widerstand gerechnet. Denn als er ihr Büro betreten hatte, war er einer formlosen, aber dennoch unüberwindbaren Barriere begegnet, mit der sie ihn erfolgreich auf Distanz hielt. Wie üblich hatte sie sich angespannt, als er ihr die Hand geboten hatte, um ihr in die Droschke zu helfen. Aber im Moment schien es, als wäre seine Wirkung auf sie zu einem Häufchen Belanglosigkeit zusammengeschmolzen.
Als ob sie ihre Reaktion - und auch ihn - als unbedeutend eingestuft hatte.
Es war eine Sache, seine geistigen Fähigkeiten höher einzuschätzen als seine persönlichen Eigenschaften - es war eine ganz andere, die erwähnten Eigenschaften vollkommen zu missachten.
Barnaby hatte sich nie für eitel gehalten und war immer noch recht überzeugt, dass er es auch nicht war. Und ganz bestimmt gehörte er nicht zu den Gentlemen, die erwarteten, dass die Ladys ihm zu Füßen lagen. Aber ihre hartnäckige Weigerung, ihn als Mann anzuerkennen, ihre Weigerung, die Wirkung anzuerkennen, die er auf sie ausübte, zerrte langsam an seinen Nerven.
Die Kutsche bog in den Arnold Circus ein und hielt dann seitlich in der engen Gasse.
»Kann nicht weiterfahren«, rief der Kutscher nach unten.
Barnaby fing Penelopes Blick auf, öffnete den Kutschenschlag und stieg aus. Er schaute sich um, trat dann ein paar Schritte zur Seite und reichte ihr die Hand, als sie ebenfalls ausstieg. Er schaute auf zum Kutscher. »Warten Sie hier.«
Der Mann schaute ihn an, begriff die
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