Im fünften Himmel
mich heute Nacht noch hinbringt? Ist mir egal, wie spät.«
»Ooooh!«, ruft Sylvia. »Eine karibische Traumhochzeit! Wie nett! Wer heiratet denn? Ich liebe Hochzeiten. Wenn mein Sohn doch endlich mal heiraten würde!«
Jessica seufzt, ehe sie antwortet, und fragt sich, ob sie nicht einen Fehler gemacht hat, als sie den »Copacabana«-Spruch weggelassen hat. »Zwei meiner ältesten und besten Freunde.«
Die Beschreibung ist unangemessen. Bridget und Percy sind nicht bloà ihre Freunde, sondern die beiden Menschen, die sie »an die Liebe glauben lassen. Nicht einfach an Liebe, sondern an die Liebe in all ihren wankelmütigen Wandlungen im Lauf der Zeit.« In ihrer neunjährigen Beziehung haben Bridget und Percy »als lebendiger Beweis des Unmöglichen« liebesmüde Zyniker wie Jessica auf die Palme gebracht: »Zwei junge Menschen können sich verlieben, sich lieben und immer weiter die Liebe zueinander wählen anstatt irgendwen oder irgendwas anderes ⦠und mit dieser Wahl wahnsinnig glücklich sein .« (Wieder stammen alle Zitate aus Jessicas Rede.) Der letzte Halbsatz ist bei den meisten Langzeitpaaren das Problem, wie bei ihren Eltern, die mit ständigen Weltreisen die Monotonie bekämpfen, oder beim Ex-Mann ihrer Schwester, der mit Rumtreiberei in der ganzen Stadt die Monogamie bekämpfte, ehe Bethany endlich zur Besinnung kam und seinen transfetten Arsch vor die Tür setzte.
»Also, der letzte Flug heute geht in drei Stunden«, erklärt Sylvia. »Auch über Miami. Ankunft in St. Thomas um zehn Uhr heute Abend.«
Jessica reckt die Arme wie ein siegreicher Preisboxer.
»Aber der ist überbucht«, dämpft Sylvia ihre Freude. »Ich buche Sie auf alle Fälle auf den Flug morgen früh, aber sie können es ja Stand-by bei dem heute Abend versuchen.«
»Und wie sind da meine Chancen auf einen Platz?«
Sylvia senkt beide Daumen und verzieht das Gesicht.
»Sie meinen also, ich kann nur hoffen, dass jemand wie ich dämlich genug ist, den Flug zu verpassen.«
»Genau«, zuckt Sylvia die Achseln. »Jemand wie Sie.«
Jemand wie Sie. Jessicas unkonzentrierte Gedanken wandern schon wieder. Sie denkt an jemanden wie sie selbst, wie sie es schon beim Krankenhausbesuch gestern Abend getan hat. Sie erinnert sich an den rasierten Schädel (Jessica betet, dass es Gelegenheit geben wird, über das abermalige unschöne Rauswachsen zu scherzen), zerteilt von einer dicken OP-Narbe; das reaktionslose Gesicht, unkenntlich und grotesk geschwollen und verfärbt (noch ein Witz: Was für ein Glück, dass ihr Lila so gut steht); der schmale, magere Körper (kindlicher als je zuvor), der an zu vielen Schläuchen hängt â Atmen, Essen, Ausscheiden â und mit zu vielen Geräten verbunden ist, die sie seit viel zu vielen Stunden schon am Leben erhalten: sechsunddreiÃig.
Jessica schaut auf ihre neue Armbanduhr, ein Geschenk ihrer Mutter, die immer noch glaubt, es sei unprofessionell, auf dem Handy nach der Uhrzeit zu schauen â noch so ein Missverständnis zwischen den Generationen, wenn auch harmlos. Es ist fast vierzehn Uhr. Wenn der nächste Flug nach St. Thomas geht, wird es hier in Newark fast dunkel sein. Vor zwei Tagen, in einer anderen Zeitzone, wäre Jessicas Uhr drei Stunden nachgegangen, man hätte die winzigen Zeiger dreimal kreisen lassen müssen, um wieder pünktlich zu sein. Und in noch einer anderen Zeitzone ist es jetzt schon Abend. Oder schon morgen. Zeit ist flüssig und flexibel, ein Konstrukt, eine Erfindung. Ist das nicht genau die Logik, nach der Alkoholiker rund um die Uhr das Glas erheben? Hey, irgendwo ist es jetzt fünf Uhr nachmittags.
»Okay, Sylvia«, sagt Jessica und stützt sich auf den Tresen. »Können Sie mir sagen, wo die nächste Bar ist?«
FÃNFZEHN
Marcus atmet ein. Verschränkt die Hände, schwingt sie über den Kopf und streckt sie mit den Handflächen nach oben zur Decke. Er atmet aus.
Eine Schülerin im letzten Highschool-Jahr, schon im Hoodie ihrer Wunsch-Uni, mit Jogginghose und Sherpa-Boots, kichert, während sie mit dem Kamerahandy Fotos von Marcus schieÃt.
Marcus lässt die verschränkten Hände hinter den Nacken sinken und presst die Ellbogen an die Schläfen. Wieder atmet er ein.
Das Mädchen simst einer Freundin: scharf!
Seine Hände lösen sich voneinander. Er
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