Im fünften Himmel
Ihnen, mein Sohn kann keine dreiÃig Sekunden vorausdenken. Immer nur jetzt, jetzt, jetzt, ständig diese Messages und dieser SMS-Quatsch. Ich glaube, seine Generation ist überhaupt nicht in der Lage, selbstständig sinnvoll zu denken.«
»Sie können durchaus selber denken, und sie tun es auch«, sagt Jessica. »Sie wollen diese Gedanken nur nicht mit Ihnen teilen.«
Sylvia taxiert Jessica skeptisch. »Sind Sie Lehrerin oder so was?«
»Eher âºso wasâ¹ als Lehrerin«, antwortet Jessica. »Aber ich hoffe, das ändert sich bald.« Ihr wird klar, dass sie die Unterhaltung hier beenden könnte, doch sie fühlt sich gezwungen, sie weiterzutreiben, all die Mädchen zu verteidigen, die sich hier nicht selbst verteidigen können. »SMS schreiben ist für Ihren Sohn sinnvoll. Er will nicht, dass Sie das verstehen. Das ist doch gerade der Sinn der Sache. Haben Sie nie geheime Briefchen in der Klasse rumgereicht, als Sie in seinem Alter waren?«
»Doch, hab ich«, räumt Sylvia ein, ehe sie wieder in Fahrt kommt, »weil wir nämlich unsere Geheimnisse für uns behalten wollten. Aber heute ist das ganz anders, wo alles im Internet steht. Von diesen Jugendlichen will doch keiner Privatsphäre. Die sind alle süchtig nach Aufmerksamkeit. Nick hat das Studium geschmissen und meint, er verdient es, fürs Nichtstun berühmt zu werden. Einen Job hat er sich erst gesucht, als ich ihn dazu gezwungen habe. Aargh!« Sylvia schlägt sich mit der Hand vor die Stirn.
Jessica lässt die Augen kreisen. Sylvias Kommentare zeigen genau die kollektive Generationsschelte, über die sich die Mädchen endlos aufregen können. Und niemand hat heftiger gegen das Jugend-Bashing gekämpft als Sunny.
Liebste Eltern,
ich schreibe diesen Brief, um mich im Namen der Schau!-Mich!-An!-Generation zu entschuldigen. Wir glauben, wir verdienen die ungeteilte Aufmerksamkeit der ganzen Welt. Wir verlangen sie! Da ich immerhin eure habe, möchte ich ein Geständnis ablegen: Ihr habt Recht.
Die Welt macht schwierige Zeiten durch, dennoch denken wir nur an uns selbst. Die Teenager von heute lieben den Luxus. Wir wollen alles, und wir wollen es jetzt, und Gott helfe euch, wenn ihr es uns nicht gebt. In dieser Kultur des Exzesses sind wir die schlimmsten Sünder, die launischsten Konsumenten, die gröÃten Verursacher des globalen Müllbergs, den unsere Wegwerfgesellschaft anhäuft.
Wir haben schlechte Manieren, nichts als Verachtung für Autoritäten und keinerlei Respekt vor unseren Vorfahren. Wir widersprechen unseren Eltern, schwatzen in Gesellschaft und tyrannisieren unsere Lehrer. Wir haben keine Ehrfurcht vor der Familie oder dem Alter. Wir reden, als wüssten wir alles, und die Weisheit unserer Vorfahren wird als Narrheit abgetan. Ich kann nur für mich selbst sprechen, wenn ich sage: Genug davon!
Ich verstehe, warum ihr keine Hoffnung für die Zukunft seht, wenn sie in den Händen der frivolen Jugend von heute liegt. Als ihr jung wart, da habt ihr gelernt, diskret zu sein, das Alter zu respektieren, doch die heutigen Teenager sind schreckliche Besserwisser und kennen keine Zurückhaltung. Als Mädchen muss ich mich zusätzlich dafür entschuldigen, dass ich dreist, unzüchtig und wenig damenhaft in Rede, Benehmen und Kleidung wirke.
Ãbrigens ist dieser Brief ein Potpourri von Plagiaten aus Zitaten, die Sokrates, Peter von Amiens und Hesiod zugeschrieben werden, sowie ein paar Klassikern aus der Ratgeberkolumne »Dear Abby«, die ich im Internet gefunden habe. Ich, ähm, denke also, dass meine Generation auch nicht verwöhnter, fordernder, narzisstischer ist als die Teenager vor Hunderten oder Tausenden von Jahren ⦠oder auch diejenigen, die in den Sechzigern und Siebzigern aufwuchsen, SO WIE IHR.
Eure Tochter
Sunny
PS: Diese Copy-&-Paste-Nummer ist natürlich absichtlich ironisch. Vielen Dank.
Sylvia bemerkt Jessicas geradezu akrobatisches Augenrollen kaum. Als überarbeitete Mutter eines verbitterten Sohnes hat sie zu ihrem Ãberleben eine hohe Toleranzschwelle für Elternekel entwickelt.
»Wir können Sie in ein Flugzeug setzen, das morgen früh um neun abfliegt, mit Umsteigen in Miami und Ankunft in Charlotte Amalie, St. Thomas, um dreizehn Uhr.«
Jessica schüttelt schon protestierend den Kopf. »Die Hochzeit ist morgen früh«, fleht sie. »Gibt es irgendeinen Flug, der
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