Im fünften Himmel
War da nicht eine Verbindung zwischen Zebrastreifen und ihr entstanden? Natürlich nur kurz, aber doch so intensiv, wie Soldaten es immer schildern, im Schützengraben vereint gegen den Feind? Jessica fühlt sich von Zebrastreifens Missachtung irrational beleidigt.
»Bitte treten Sie vor«, sagt die Frau, die genau wie Sylvia vom Gate C-88 aussieht, die ihr heute schon einmal den Weg versperrt hat. Erst als Jessica nur noch Zentimeter vor der Theke steht, kann sie das Namensschild lesen â SYLVIA â und feststellen, dass es sich nicht um einen noch böseren Zwilling, sondern um dieselbe Person handelt. Jessica findet es eigenartig, dass Sylvia beim Flugrouten-in-die-Luft-Zeichnen gar nicht erwähnt hat, dass sie ihre nächste Zwei-Stunden-Schicht im Service-Center absolvieren muss. Diese Rotation hat sich die Clear Sky Task Force »Personalzufriedenheit« ausgedacht, sie soll die Arbeitsmonotonie durchbrechen und die langfristigen psychologischen Schäden begrenzen, die stundenlanger Kontakt mit gnadenloser Fluggastwut hinterlässt.
»Schon wieder hallo!« Jessica bleckt ihre zuckerglasierten Zähne zu einem irren Grinsen. Dieses Grinsen verbraucht ihre gesamte Donut-Energie, doch sie reicht hinten und vorne nicht. Das Lächeln stellt eine ungeheure Anstrengung dar; sie spürt, wie die Anspannung noch weit unterhalb des Halses Muskeln strafft. Die Schultern haben an diesem Lächeln schwerer zu tragen, als ihnen lieb ist. Womöglich bekommt sie von diesem Lächeln eine Schleimbeutelentzündung. »Also, ich hoffe immer noch, nach St. Thomas zu kommen!«
Auch wenn es Jessica gar nicht mitbekommen hat, weil sie zu viel Zuckerguss von den Fingern lecken musste, ist es tatsächlich Sylvia gewesen, die die Mitglieder des Barry-Manilow-Fanclubs soeben informiert hat, dass sie auf unbestimmte Zeit in Newark festsitzen. Sylvia kann nicht zur Tagesordnung übergehen, ohne ein bisschen Dampf abzulassen, auch wenn das völlig unprofessionell und im offiziellen Clear-Sky-Service-Center-Handbuch verpönt ist, wo allen Angestellten geraten wird, unzufriedenen Kunden gegenüber unpersönlich, aber höflich zu bleiben.
»Sie gehören doch nicht zu diesem Fanclub, oder?«
»Neeeiiin«, sagt Jessica.
Als Sylvia zum Himmel blickt und stumm GOTTSEIDANK sagt, zeigt sie mehr Persönlichkeit, als im Handbuch empfohlen wird. Auf Jessica wirkt diese Sylvia ganz anders als der Roboter vom Gate C-88, darum kichert sie über die Geste, um die unerwartete Eintracht zu festigen.
»So ein Theater wegen Barry Manilows Abschiedstournee. Lächerlich.« Sylvias Tonfall ist beiläufig, doch fünf Jahrzehnte Stirnrunzeln lassen sich nicht so leicht wegbügeln.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, sagt Jessica und fährt sich mit der Zunge über die Zähne. Sie spürt regelrecht, wie der Zahnschmelz erodiert. Wieso hat sie diesen Donut gegessen?   Â
»Ich war ehrlich gesagt nie so ein groÃer Fan von ihm«, sagt Sylvia.
Jessica ist versucht, ihr beizupflichten. Ich auch nicht! Aber zu diesem »Copacabana« kann man auf Hochzeiten ganz gut tanzen, finden Sie nicht? Und wo wir schon von Hochzeiten reden, ich hoffe sehr, Sie können mich zur Hochzeit meiner besten Freundin bringen â¦
Aber Sylvia lässt Jessica gar nicht zu Wort kommen. »Abschied? Ha! Das sagen sie alle. Hat Chers Abschiedstournee nicht fünf Jahre gedauert? Und was ist mit dieser Céline Dion? Hat die sich nicht schon dreimal zur Ruhe gesetzt? Damit wollen die doch bloà Tickets verkaufen.«
»Ganz genau!«, stimmt Jessica wieder etwas übereifrig zu, denn sie hat sich für gezwungene Höflichkeit als besten Weg entschieden.
»Man kann ja sagen, was man will, diese Céline Dion kann wenigstens singen. Die hat vielleicht ein Organ! Aber Barry Manilow? Vergessen Sieâs.«
»Vergessen Sieâs!«, echot Jessica.
Sylvia nickt voller Sympathie und lässt die Finger über die Tasten huschen. Jetzt ist Jessica überzeugt, dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um sie auf den nächsten Flug nach St. Thomas zu buchen.
Natürlich fängt genau in diesem Augenblick wie aufs Stichwort ihr Handy an zu singen.
You know I canât smile â¦
Sylvia runzelt die Stirn, und ihre Hände erstarren. »Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie sind kein Fan.« Offensichtlich fühlt sie sich
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