Im fünften Himmel
gleichen rosa Outfit wie ihre Tochter, ein dämlicher Versuch, das Alter zu verleugnen, der nur noch mehr Aufmerksamkeit auf die vielen Jahre wilden Lebens lenkt, die zwischen den beiden liegen. Genau so würde Las Vegas aussehen, wenn es plötzlich beschlieÃen würde, nicht mehr die Stadt der Sünde zu sein, sondern die übernervöse Mutter einer Zehnjährigen.
»Amber! Was sage ich immer über das Reden mit Fremden?«
»Ef tfu laffen«, leiert Amber monoton.
»Du bist erst zufrieden, wenn du entführt, vergewaltigt und halbtot liegen gelassen wirst.«
Dieser Ausbruch verbaler Gewalt schockiert Jessica, und sie fragt sich, ob die mütterlichen Angstzustände Folge oder Ursache des gereizten Darms sind.
Ihre Tochter jedoch bleibt unbeeindruckt. »Dann bevorge ich mir eben einen Amber-Alarm«, sagt sie schnippisch.
»Womit habe ich das verdient?«, knurrt die Mutter gen Himmel, packt ihre Tochter an der Kapuze und zerrt sie aus der Toilette, ohne sich, wie Jessica bemerkt, vorher die Hände zu waschen. Mutter wie Tochter präsentieren auf dem Hintern die Botschaft weiblicher Durchsetzungskraft, eines positiven Körperbildes und gesunden Selbstbewusstseins: BU! Be You!
Ambers Mutter widert Jessica nicht an; sie tut ihr eher leid. Sie ist auch bloà eine Mutter, die mit Hilfe strenger Regeln versucht, ihre Tochter vor Gefahren zu schützen. Jessica stellt sich vor, wie Sunny laut aus ihrem nächsten Essay vorliest:
Sprich nicht mit Fremden. Nimm keine Drogen. Rauch nicht. Fahr nicht betrunken. Hab keinen Sex. Benutze ein Kondom. Schmier dich mit Sonnencreme ein. Trag einen Helm. Wenn du was siehst, sag was. Sag einfach Nein. Stehen bleiben, fallen lassen, zur Seite rollen. Stehen bleiben, hinschauen, hinhören. Schau nach rechts und links, wenn du über die StraÃe gehst.
Sicherheit ist eine Illusion. Jedem kann jederzeit was Schlimmes passieren, ob man sich an die Regeln hält oder nicht. Du kannst nach links, nach rechts und wieder nach links gucken, ehe du vom Bürgersteig auf den FuÃgängerüberweg trittst, aber das wird das namenlose Arschloch in seinem beschissenen Pick-up nicht daran hindern, dich auf die Intensivstation zu befördern â¦
Jessica schüttelt die Stimme aus dem Kopf, sucht in der Tasche nach ihrem Handy und schaut nach verpassten Anrufen. Keine. Wieder denkt sie an ihren Besuch am vorigen Abend, als Sunnys Eltern ihr versichert haben, Sunny könne sie wirklich hören, auch wenn sie nicht antworten konnte. Machten sie sich was vor, oder waren sie bloà optimistisch? Macht das einen Unterschied, wenn ihre einzige Tochter seit drei Tagen im Koma liegt? Jessica überlegt, ob es wohl Zweck hat, im Krankenhaus anzurufen und zu bitten, dass man Sunny den Hörer ans Ohr hält, damit sie ihr eine Geschichte erzählen kann, für die sie sicher â nein!, nicht sterben , schlechte Wortwahl â leben würde.
»Hey, Sunny«, würde Jessica sagen. »Rate mal, wer drauÃen vor der Toilettentür auf mich wartet?«
Was gibt es sonst zu sagen? »Er sieht aus wie ein junger Gott.« Und? »Und ich sehe aus wie eine alte Vettel, weil ich nicht mehr schlafen kann, seit ich von deinem Unfall gehört habe.« Dann? »Also heb deinen Hintern aus dem Bett, Sunny! Dein Koma ruiniert mein Privatleben.« Und schlieÃlich? »Tut mir leid. Ich kann darüber keine Witze machen. Du bist ein so unglaubliches Mädchen. Wach auf, Sunny. Ohne dich wäre die Welt so viel schlechter â¦Â«
Das Telefon zittert in ihrer Handfläche, als würde sie angerufen, doch es bleibt stumm. Jessica beschlieÃt, dass sie für Sunny nicht bereit ist, und steckt das Handy wieder in eine der vielen Taschen.
Noch einmal betrachtet sie ihr Gesicht und versucht sich so zu sehen, wie Marcus sie sehen könnte. Sie gibt zu, dass der Anblick nicht sonderlich hübsch ist, und sie weiÃ, dass sie sich keinesfalls wird zusammenreiÃen können. Es wird keine »Lukfufleben«-Renovierung stattfinden, keine Wunderwandlung aus einer kleinen magischen Teekanne. So sieht sie heute aus, auch wenn das keine getreue Wiedergabe ihrer Attraktivität an jedem anderen Tag ist. Und weil Jessica Marcus in näherer Zukunft nicht wiedersehen dürfte, wird er dieses Bild im Kopf behalten. So wird er sich an sie erinnern.
Doch statt die Ungerechtigkeit ihrer Lage zu bejammern (Wieso
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