Im fünften Himmel
hatte Jessica erzählt, dass sie zumindest diesen Teil des Geschäfts zu retten hofft, eine Modelinie für Mädchen, die weibliche Durchsetzungskraft, ein positives Körperbild und gesundes Selbstbewusstsein fördert.
»AMBER JEWEL!«, kreischt die Mutter aus der Kabine.
Ein weiteres Augenverdrehen, mit dem sich Amber gerade den begehrten Platz im US-Sportgymnastik-Team für die Olympischen Spiele 2012 gesichert hat. »Eigentlich wollte ich tfum Geburtftag daf Little-Ladyf-Lukfufleben-Paket haben, aber Mama hat gevagt, daf wär viel tfu teuer. Ftattdeffen haben wir daf Mutter-Tochter-Mini-Maniküre-Make-up-Programm gemacht.«
Jessica macht den Mund auf, um Amber zu erzählen, dass sie mit dem Gesicht und dem Gehirn hinter dem Be You Tea Shoppe verwandt ist und dass eines der toll aussehenden Multikulti-Trios aus GroÃmutter, Mutter und Tochter, die auf den Anzeigen und Broschüren zu sehen sind (nämlich das Amerikanische-Blondinen-Trio) aus ihrer Nichte, ihrer Schwester und ihrer Mutter besteht. Das wäre doch ein hübsches kleines Informationskörnchen, mit dem Amber bei ihren Freundinnen angeben könnte: Hey, ich habe die Schwester der Besitzerin vom Be You Tea Shoppe getroffen â¦
Doch wenn sie genauer drüber nachdenkt, besitzt dieses Körnchen wenig Wert und könnte sogar negative Auswirkungen haben. Jessica kann sich die vernichtenden Reaktionen ihrer Altersgenossinnen ausmalen. Ãhm, und, hast du irgendwie was umsonst gekriegt? Nee? Und wen interessiert der Scheià dann? Noch wahrscheinlicher: Amber weià selbst, wie sinnlos es ist, eine derart lahme Story ihren Freundinnen zu erzählen, fühlt sich aber trotzdem mies, weil sie nicht in eine millionenschwere Unternehmerfamilie geboren worden ist, um im zarten Alter von sieben Jahren das international bekannte Gesicht einer Marke zu werden. Jessica weià auÃerdem, dass alle Be You Tea Shoppes im Laufe des Jahres geschlossen werden, was die Bemerkung noch zweckloser erscheinen lässt.
Es ist eins ihrer beruflichen Ziele, das sie ins Privatleben übernommen hat: Niemand sollte sich am Ende einer Unterhaltung mit ihr schlechter fühlen als am Anfang. In den vielen Stunden, die sie den Mädchen und ihren Geschichten und den Reaktionen der Mädchen auf andere Geschichten zugehört hat, konnte Jessica bei sich selbst ein gewisses Taktgefühl entdecken, das ihr früher abging. Nur weil sie zu einem Gespräch irgendetwas beitragen könnte , muss sie es nicht gleich tun. In diesem Sinne erlegt sie ihrer Zunge Zurückhaltung auf und wünscht sich, sie könnte Amber statt einer gestrichenen Anekdote eine ungeöffnete Probe eines zukünftigen Must-have-Produkts bieten.
Die hat inzwischen noch mal auf den Knopf des Seifenspenders gedrückt, schäumt sich mit der billigen Seife die Hände ein und wedelt sie dann vor der Lichtschranke hin und her, um das Wasser anzustellen. Dann fängt sie an zu singen. »Happy Birtday to You.« Sie hat eine hohe, dünne Stimme, die sehr nach dem vielen Metall in ihrem Mund klingt. »Happy Birtday to You â¦Â«
Dieses Lied an diesem Ort verblüfft Jessica. »Hast du heute Geburtstag?«
»Nein, ich hab im Auguft Geburtftag«, sagt Amber. »Wievo?«
»Weil du Happy Birthday singst.«
»Daf ift blof ein Händewaffen-Lied.« Amber zuckt die Achseln. »Damit ich mir lange genug die Hände waffe, um die gantfen ekligen Bakterien umtfubringen, von denen man krank wird. Wir haben blof grade über Geburtftage geredet, darum hatte ich daf im Kopf. Geht aber auch mit dem Alphabetlied.«
»Ach so.« Jessica ist ein bisschen verlegen. »Klar.«
Nach zwei Jahren Arbeit mit den Mädchen, die immer alles besser wissen als sie, hat Jessica ein Talent fürs Erspüren unausgesprochener Fragen entwickelt. Sie gibt sich groÃe Mühe, diese dann als rhetorische Fragen selbst zu formulieren, damit keinem der Mädchen die unangemessene Neugier oder das Unwissen peinlich sein muss. Die jüngsten Highschool-Erzählerinnen sind zwar immer noch ein paar Jahre älter als Amber, aber auch bei ihr sieht Jessica die offensichtliche Frage im Kopf entstehen: Und wann haben Sie Geburtstag?
Amber will sie gerade stellen, als eine Toilettenspülung betätigt und eine Kabinentür aufgerissen wird, die den Blick freigibt auf eine dauergebräunte anatomische Unmöglichkeit im
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