Im fünften Himmel
wählen zwanzig Schüler aus â fünf aus jedem Jahrgang â, die an einem zehnwöchigen auÃerschulischen Schreibseminar teilnehmen; krönender Abschluss ist eine öffentliche Lesung, und die Texte der Mädchen werden in einer Anthologie veröffentlicht.«
»Das sind also alles angehende Schriftsteller?«
»Manche ja. Andere Mädchen werden eingeladen, weil sie als besonders gefährdet eingeschätzt werden und Erzähltherapie ihnen helfen könnte.«
»Sind das nur Mädchen? Du sagst immer Mädchen.«
»Aus Gewohnheit. Das Programm ist nicht nur für Mädchen gedacht, aber die Mehrzahl der Teilnehmer ist weiblich. Was glaubst du als ehemaliger männlicher Teenager, warum das so ist?«
»Keine Ahnung. Weil männliche Teenager Idioten sind? Wie du vorhin schon bemerkt hast: Ich hätte sicher teilgenommen, eben weil fast nur Mädchen dabei sind.«
»Aber natürlich! Und das hätte Wunder gewirkt für deine ⦠wie hast du es noch genannt? Deine Dichter/Junkie-Aura?«
»Du hast âºmännliche Hureâ¹ vergessen. Stimmt, das hätte sehr geholfen, aber nur, wenn ich nicht richtig teilgenommen hätte. Ich hätte zehn Wochen lang zu jeder Sitzung kommen müssen, ohne je ein Wort zu sagen oder irgendwas zu schreiben oder beizutragen.«
»Richtig! Und dann am allerletzten Tag hättest du die Hand gehoben. Und der ganze Raum wäre verstummt, alle Augen und Ohren wären auf dich gerichtet gewesen. Und du hättest den Mund aufgemacht und irgendwas total Willkürliches und Absurdes gesagt. So was wie ⦠âºSchiebt es auf Byron!â¹Â«
»Genau so was.«
[Pause.]
»Und wie passt deine psychologische Ausbildung da ins Bild?«
»Es ist therapeutische Kreativität. Risikoprophylaxe durch persönliche Expressivität.«
»Ah ja, Kunst und Handwerk spielen ja auch bei allen Suchtbekämpfungsprogrammen eine groÃe Rolle. Du hättest mal sehen sollen, was für tolle Super-Mario-Brothers -Statuen ich aus Eisstielen gebastelt habe.«
»Echt jetzt?«
»Ja, echt. War nicht leicht, weil man so einen besonderen lösungsmittelfreien Kleber benutzen musste, der nicht besonders gut hielt. Ich habe für meine Kunst gelitten.«
»Ich wusste überhaupt nicht, dass du je Super Mario Brothers gespielt hast.«
»Habe ich auch nicht. Aber genug andere. Ich konnte die Dinger gegen eingeschmuggelte Zigaretten eintauschen.«
»Echt??«
»Ja, echt, Jessica. Wieso ist das so schwer zu glauben?«
»Ich finde das gar nicht schwer zu glauben. Deine Geschichten sind total glaubwürdig, nur kann ich nicht fassen, dass ich sie noch nie gehört habe.«
»Ich nehme an, die Super Mario Brothers waren bei uns einfach nie Thema.«
»Wohl nicht.«
[Pause.]
»Also, Risikoprophylaxe?«
»Ach ja. Menschen sind, hm, in ganz besonderer Weise auf Erzählstrukturen gepolt. Untersuchungen deuten darauf hin, dass wir in der Pubertät anfangen, uns selbst als Protagonisten unserer Lebensgeschichte zu sehen, und die wichtigen Phasen bilden die einzelnen Kapitel. Die dramatischsten Ereignisse werden als Schlüsselszenen der Gesamthandlung präsentiert, die Höhen und Tiefen der Geschichte eines Lebens. Erinnerst du dich an die Widmung in den Notizbüchern, die du mir geschenkt hast? Da hast du geschrieben: âºDie Geschichten, die wir einander von uns selbst erzählen, machen uns zu dem, was wir sind.â¹Â«
»Tatsächlich?«
»Tatsächlich. Du kennst das Konzept also. Aber das Geschichtenerzählen definiert nicht bloÃ, wer wir sind, sondern kann auch bestimmen, wer wir werden.«
»Interessant.«
»Wenn Erwachsene vor wichtigen Entscheidungen stehen, suchen sie Rat in Erzählungen ihrer persönlichen Geschichte. Teenager können natürlich in ihrer autobiographischen Bibliothek aus viel weniger Bänden wählen â sie haben längst noch nicht so viele Erfolge und Misserfolge durchlebt und ⦠argh.«
»Was?«
»Das ist direkt aus unserem Erzählprojekt-Leitbild. Ich hasse das, wenn ich mich wie eine PowerPoint-Präsentation anhöre, als ob ich nicht mehr selbstständig denken und sprechen könnte.«
»Schon in Ordnung, red weiter. Ich möchte das hören.«
»Im Grunde ermutigen wir Teenager, die Vergangenheit in einer Weise zu erzählen,
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