Im fünften Himmel
zweite Mal tat sie es einige Monate später, fleischlich, als sie von seinem nackten Schoà aufstand. Erst bei diesem zweiten Mal unterbreitete Greta bildliche Beweise in Form eines Drucks des Selbstporträts, wegen dem sie ihn angeblich â aber nicht wirklich  â überhaupt erst in ihre Wohnung gelockt hatte.
»Es trägt den Titel Der Verzweifelte «, sagte Greta in einem Ton, der an ihre universitären Vorträge erinnerte. »So hast du jeden Tag in meinem Seminar ausgesehen. Dein Bart ist dichter, aber ansonsten könntest du das sein.«
Greta reichte ihm einen schweren Kunstband. Die aufgeschlagene Doppelseite zeigte einen wild blickenden Mann, der in irrem Entsetzen an seinen ungekämmten Haaren riss, den Mund halb geöffnet, als wollte er um Hilfe flehen. Marcus entdeckte nur eine vage Ãhnlichkeit, aber der Titel traf ins Schwarze. Er war ein Verzweifelter, schon seit einiger Zeit, nie jedoch verzweifelter als in den Augenblicken direkt vor seinem spontanen Heiratsantrag. Jessica einen Antrag zu machen war die zutiefst verzweifelte Tat eines zutiefst Verzweifelten gewesen, ein letzter Versuch, etwas â jemanden â festzuhalten, wovon er im tiefsten Herzen bereits wusste, dass er es verloren hatte.
Dann zeigte Greta auf das herausgestellte Zitat neben dem Porträt: »âºWenn ich nicht mehr kontrovers bin, werde ich auch nicht mehr wichtig seinâ¹Â«, las sie vor. »Klingt nach jemandem, den ich kenne.«
Marcusâ Eingeweide verkrampften sich, als er dem längst toten Künstler ins Gesicht sah, dem er gerade genug ähnelte, um für etwas nekrophile Erregung zu sorgen. In diesem Augenblick erkannte er, dass Greta trotz ihrer akademischen Grade auch nicht besser war als die Mädchen von Highschool und Uni, die ähnliche Vergleiche mit anderen sexy tragischen Antihelden gezogen hatten â Jim Morrison, River Phoenix, Kurt Cobain, Heath Ledger â, lauter beschädigte Wahnsinnige, die alle hätten gerettet werden können, so der Mythos, wenn nur die richtige Frau sich ihrer angenommen hätte. Marcus war von dieser Entdeckung zutiefst enttäuscht, denn er hatte masochistisch gehofft, Gretas natürliche intellektuelle Ãberlegenheit, gepaart mit Lebenserfahrung und -weisheit, werde seinen mageren Beitrag zu dieser Beziehung bei weitem übertreffen. Doch diese Desillusionierung hatte Marcus nicht abgehalten, sich von Greta einige weitere Monate dominieren zu lassen.
Es sollte bloà eine Affäre sein. Nachdem sie die beendet hatte, wollte er sie mit Telefon- und SMS-Sex zurückgewinnen. Einmal hatte er nach zu vielen Gläsern Wein vor ihrer Wohnung herumgelungert und ihr persönlich libidinöse Anträge gemacht. Das war dumm und gefährdete ihren Ruf viel stärker als seinen. Doch Greta hatte wegen der Affäre nicht, wie Natty behauptete, ihre Anstellung verloren. Zu Marcusâ Bestürzung hatte sie sich jedoch von der Lehrverpflichtung freistellen lassen und war nie zurückgekehrt. In den Jahren, die seither verstrichen waren, hatte sie nur ein einziges Mal per E-Mail Kontakt mit ihm aufgenommen und ihm mitgeteilt, sie habe gerade mit einem groÃen Verlag einen Vertrag über ein Sachbuch geschlossen: Ãltere Frauen, jüngere Männer. Eine kulturübergreifende historische Untersuchung.
Es stellte sich heraus, dass Marcus raffinierter ausgenutzt worden war, als er sich je hätte träumen lassen.
Fester, härter, kürzer reibt er jetzt. Marcus stöhnt voller Genuss, ja, aber auch, weil er möchte, dass Jessica von seiner Erregung geweckt wird. Er möchte, dass sie es weiÃ. Ich möchte, dass du es weiÃt â¦
In wehrloser postkoitaler Schläfrigkeit hätte Marcus einmal fast den Fehler gemacht, Greta von Jessica zu erzählen. Jessica war schlieÃlich die Antwort auf die Frage: »Wieso hast du so verzweifelt ausgesehen, als du in mein Seminar kamst?« Doch Marcus hatte nur »Ein Mädchen« geantwortet und den Rest Gretas Phantasie überlassen. Marcus wollte nicht, dass Greta über Jessica Bescheid wusste, weil Jessica ihm wirklich etwas bedeutet hatte, also gilt für Greta das Gegenteil. Er will Jessica alles über sie erzählen, weil ihm Greta nichts bedeutet. Der einzig bedeutsame Aspekt der Beziehung war ihr Ende: Sie trennte sich von ihm, nachdem er den Fehler gemacht hatte, die Uhr zurückzuweisen, die
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