Im fünften Himmel
keine Zeit anzeigte. Sie hatte gedacht, ihm würde die Uhr gefallen, so wie ihm der teure Kaschmirpullover gefallen hatte, der zu seinen Augen passte. Doch im Gegensatz zum Luxuspullover, der immerhin noch einem Zweck diente, konnte er die Uhr wegen ihrer Sinnlosigkeit und AnmaÃung nicht ausstehen . Später konnte Marcus kaum fassen, wie tief er gesunken war, dass er sich freiwillig jemandem unterworfen hatte, der so etwas glauben konnte.
Marcus will Jessica wach rütteln und sich erklären. Ich trage die dämliche Uhr, um mich daran zu erinnern, dass es nie eine andere Jessica geben wird, aber nie eine weitere Greta geben darf.
Greta war gern zu Marcus unter die Dusche gekommen. Ihm war diese Praxis eher unangenehm gewesen; von einer älteren Frau gewaschen zu werden schien mehr als nur ein bisschen zeremoniell, mütterlich gar, was Marcus natürlich â gänzlich unpassend, vor allem, wenn er Greta unter der Dusche leckte â an den Sohn in seinem Alter denken lieÃ, den sie nie zu sehen kriegte. Einmal war Marcus der Gedanke gekommen â wieder, als er auf den Knien lag und ihr mit der Zunge zu Diensten war â, dass er nie mit Jessica unter der Dusche gestanden hatte. Dieser erste Gedanke wurde schnell zu einem wesentlichen Bestandteil des ganzen erotischen Rituals der gemeinsamen Dusche, und im Kopf erstellte er jedes Mal eine Liste all der Dinge, die er mit Greta, aber nie mit Jessica getan hatte. Sie fing ganz harmlos an â ich habe nie langsam mit Jessica getanzt, ich habe mir nie eine Flasche Wein mit Jessica geteilt, ich habe nie mit Jessica einen Espresso genippt, ich bin nie mit Jessica in die Oper gegangen  â, wurde dann pornographisch â ich habe Jessica nie mit einem Waschlappen über die Brüste gerieben, ich habe nie Seife zwischen Jessicas Beinen geschmeckt, ich habe Jessica nie gegen die Fliesen gedrückt und von hinten genommen  â, ehe die Steigerung dieser vielen »nies« ihn zwischen den Beinen einer anderen Frau kommen lieà (Oh, Jessica) , ganz leidenschaftslos und masturbatorisch, gar nicht unähnlich der Art und Weise, wie Marcus sich gerade â allein in der Hoteldusche, während Jessica jenseits der Tür schläft â zur Ejakulation und Entspannung ge(t)rieben hat.
Marcus stellt das Wasser aus und greift nach dem Handtuch, reibt sich versonnen Kopf, Arme, Brust, Beine, den schrumpfenden Penis trocken. Zum ersten Mal seit heute Morgen ist er ruhig, seit er Jessica Darlings Namen durch den Lautsprecher gehört hat. Er öffnet die Tür einen Spalt, um sie auf dem Bett liegen zu sehen. Sie hat ihre Stellung nicht verändert, doch er sieht die Decke mit jedem Atemzug steigen und fallen.
Er tritt vor den Spiegel und wischt mit dem gleichen Handtuch den Nebel von der Glasfläche. Marcus dreht den rechten Bizeps vor den Spiegel. Wenn man genau hinguckt und weiÃ, wonach man sucht, könnte man bemerken, dass die Haut an einigen Stellen dunkler ist als an anderen. Sanft fährt er mit dem Finger über schattenhafte Schraffuren und Schnörkel, die man auch für Sommersprossen oder kleine Prellungen halten könnte, die aber beides nicht sind. Ein Schauer durchfährt ihn; selbst die kleinsten Härchen an seinem Arm richten sich auf â eine Reaktion auf seine eigene Berührung, eine Zärtlichkeit, die den geisterhaften Resten eines schlecht übersetzten Tattoos gilt. Marcus behandelt diese kaum noch erkennbaren chinesischen Schriftzeichen jetzt ehrfürchtiger als früher, als sie noch lesbar waren. Die ursprüngliche Nadelkunst hat Marcus nie so viel bedeutet wie seine Entscheidung, sie entfernen zu lassen, zwar nicht aus seiner Erinnerung, aber doch von seinem Arm.
Für immer , denkt er. Was immer.
ACHT
Jessica läuft über eine grüne Wiese. Unterm Arm hat sie einen Laptop. Sie trägt ihr einziges Kostüm, das dunkle, gut geschnittene und zu teure Businesskostüm, das sie von einem ihrer ersten Do Better -Gehälter gekauft hat und das sie immer anzieht, wenn Cinthia sie überredet hat, sich mit potenziellen potenten Geldgebern für das Erzählprojekt zu treffen und sie ihre leidenschaftliche, aus tiefstem Herzen kommende PowerPoint-Präsentation darüber hält, wie sehr und unumkehrbar das Programm das Leben so vieler junger Menschen überall im Land bereits verändert hat. Das hier ist ihr Power-Kostüm. Sie
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