Im Gewand der Nacht
beiden Autos und ein Pferdekarren mussten sich mühsam einen Weg durch das Vielvölkergemisch von Beyazıt bahnen.
»Kommen Sie«, sagte Ali, als er sicher sein konnte, dass seine Tochter auf dem Weg zu ihrem Einkaufsbummel war. »Lassen Sie uns eine Kleinigkeit zu Mittag essen und dann das Geschäftliche besprechen.«
Die hellblauen Augen seines Besuchers funkelten erwartungsvoll.
Zelfa weinte nun ununterbrochen. Welches geheimnisvolle Psychopharmakon Sadrı ihr auch immer gegeben hatte, um sie zu beruhigen – die Wirkung des Mittels ließ jetzt jedenfalls nach, und sie machte sich heftige Vorwürfe. Wie hatte sie nur so kaltherzig gegenüber ihrem Sohn sein können, dem wundervollsten Wesen auf der ganzen Welt? Wie hatte sie Mehmet nur so zusetzen können? Schließlich hatte er nur schlafend in ihrem Ehebett gelegen – allein. Welcher Teufel hatte sie nur geritten?
»Postnatale Depressionen können eine schlimme Sache sein«, sagte ihr Vater, während er sie sanft in den Armen wiegte. »Das weißt du doch.«
»Ja, ich habe einige Patientinnen …«
»Ah, aber es ist etwas anderes, wenn man es am eigenen Leib erfährt, oder?«, meinte Babur Halman leise.
»Ja.« Sie blickte ihm in die Augen; ihr blasses Gesicht war angespannt vor Sorge. »Mehmet wird mir doch verzeihen, oder, Papa?«
»Wenn du ihn nicht wieder schlägst, ganz bestimmt«, antwortete er lächelnd.
»Ich habe den Bezug zur Wirklichkeit verloren, oder?«
»Nur für eine Weile. So was passiert schon mal. Und es wird auch nicht in fünf Minuten überstanden sein, Zelfa. Sadrı wird dich noch eine Weile beobachten müssen. Aber das Schlimmste haben wir hoffentlich überstanden.« Babur rutschte ein wenig zur Seite und stand auf. »Du hast eine schwere Operation hinter dir. Das war eine traumatische Erfahrung, die dich verunsichert hat.«
»Ja, aber ich hätte es wissen müssen!«
»Weil du Psychiaterin bist?« Babur lächelte. »Zelfa, mein Schatz, erinnerst du dich an die Geschichte, die ich dir einmal aus der Irish Times vorgelesen habe, über Dr. McConnell?«
Sie sah ihn verwirrt an.
»Dr. McConnell war ein berühmter Psychiater aus Belfast, der sich eines Tages in seiner eigenen Praxis einmauerte, um endlich etwas Ruhe und Frieden zu haben«, sagte Babur und lächelte erneut. »Jetzt versuch ein wenig zu schlafen. Ich schicke Mehmet später hoch, sobald sein Vater gegangen ist.«
Zelfa ließ sich wieder in ihre Kissen sinken und schloss die Augen. »Danke, Papa.«
»Gern geschehen, mein kleiner Liebling«, erwiderte er in ihrer Muttersprache, mit leicht irischem Akzent.
Babur zog die Tür hinter sich zu und ging nach unten, wo Mehmet und sein Vater schweigend im Wohnzimmer saßen. Merkwürdigerweise war Muhammed Süleyman ohne seine energische Frau erschienen. Babur wusste, dass Mehmet seinen Eltern nichts von Zelfas Problemen erzählt und jeden Besuch bisher unterbunden hatte, was ihnen merkwürdig erschienen sein musste. Denn im Allgemeinen hatten türkische Eltern vollkommen freie Hand bei ihren Kindern und deren Nachwuchs. Vielleicht war Muhammed nur kurz vorbeigekommen, um herauszufinden, was eigentlich los war.
Als er das Wohnzimmer betrat, warf Babur Mehmet ein aufmunterndes Lächeln zu, während Muhammed weiter Zeitung las.
»Es geht ihr gut«, sagte Babur leise. »Sie schläft jetzt. Du kannst später nach ihr sehen.«
Mehmet, dessen Gesicht seit der Geburt seines Sohnes noch schmaler geworden war, lächelte.
»Jetzt habe ich die ganze Zeitung durchgeblättert, aber nirgends auch nur die kleinste Information über die Entführung von Hikmet Sivas’ Frau gefunden«, drang eine tiefe, kultivierte Stimme hinter der Zeitung hervor. »Es scheint fast, als wäre der Vorfall vollständig aus den Medien verschwunden.«
Also stimmte es, was İkmen ihm über die Nachrichtensperre erzählt hatte, dachte Mehmet Süleyman und hob eine Augenbraue.
»Ich nehme an, wichtigere Ereignisse haben die Geschichte in den Hintergrund gedrängt, Vater«, sagte er. »So etwas kommt vor.«
Muhammed Süleyman ließ die Cumhuriyet sinken. Obwohl er nicht mehr der Jüngste und bereits stark ergraut war, wirkte er noch immer sehr attraktiv, genau wie sein Sohn.
»Du hast nicht zufällig an dem Fall mitgearbeitet?«, fragte er.
»Nein, Vater. Ich war mit anderen Dingen beschäftigt.«
Babur Halman erhob sich, um Teewasser aufzusetzen. Mehmet und sein Vater hatten eine merkwürdig frostige Beziehung zueinander, was er nur schwer nachvollziehen
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