Im Gewand der Nacht
Schachteln. Nur weil sie nichts mehr mit Orhan Tepe zu tun haben wollte, musste sie sich doch nicht selbst an den Bettelstab bringen. Der Schmuck war wertvoll, wunderschön, und sie trug ihn gern. Warum sollte sie ihn nicht behalten? Falls das Geld einmal knapp wurde, konnte sie ihn immer noch verkaufen.
Das Mobiltelefon in ihrer Hosentasche klingelte, und sie spürte die Vibration an ihrem Oberschenkel. Unter Schmerzen, denn die Wunden auf ihrem Rücken waren noch längst nicht verheilt, schob sie die Hand in die Tasche und zog es heraus.
»Hallo?«
»Hallo, Ayşe.«
»Ich will nicht mit dir sprechen, Orhan«, sagte sie scharf.
»Weil du İkmen unsere Schlafzimmergeheimnisse verraten hast? Das kann ich gut verstehen.«
»Nein!«
»Keine Sorge, ich habe dir schon verziehen«, sagte er.
»Lass mich einfach in Ruhe.« Sie hörte das Zittern in ihrer eigenen Stimme und spürte, wie die Furcht ihr die Arme entlangkroch bis zu den Händen.
»Oh Ayşe.«
Warum hatte sie bloß solche Angst? Er stand schließlich nicht hier bei ihr im Zimmer; sie hatte nichts von ihm zu befürchten. Da war nur seine Stimme am anderen Ende der Leitung, eine Stimme, die jetzt ganz ruhig und normal klang. Aber sie wusste, welche Kraft er hatte, Kraft genug, um sie blutig zu schlagen …
»Ich will dich nie mehr wiedersehen!«, schrie sie und beendete das Gespräch. Dann schaltete sie das Mobiltelefon ab, schleuderte es aufs Bett und wandte ihm den Rücken zu.
Aber es half nichts, ihre Blicke glitten immer wieder zu dem Telefon hinüber. Orhan hatte gesagt, er würde seine Frau für sie verlassen. Vielleicht hatte er immer noch die Absicht, sein Versprechen zu halten und sie zu einer anständigen Frau zu machen.
Sei nicht albern, dachte sie, während sie durchs Fenster beobachtete, wie eine Nachbarin, züchtig mit Kopftuch, auf dem Balkon Wäsche aufhing. Nie im Leben wirst du so fett und zufrieden sein wie sie. Orhan wird dich immer nur schlank und verführerisch haben wollen, jederzeit zum Sex bereit. Seiner ganz speziellen Art von Sex …
Leise, damit Ali sie nicht hörte, der von ihren jüngsten Erlebnissen noch nichts wusste, begann Ayşe zu weinen. Sie war wieder allein, und das schmerzte noch viel mehr als die Wunden an ihrem Körper. Trotz seiner Brutalität verkörperte Orhan für sie die vielleicht letzte Chance auf eine Heirat. Sie hatte es so satt, die alte Jungfer der Familie zu sein. Ihre Eltern waren ungebildete Bauern und hielten die Ehe für das Wichtigste und Heiligste im Leben einer Frau. Sie wusste, dass die beiden sie im Verdacht hatten, ihre Jungfräulichkeit verloren zu haben, und darin den Grund für ihr Singledasein vermuteten. Sie fürchtete ihren Zorn, wenn sie ihnen erklärte, dass sie sich ihrem ersten Liebhaber nur deshalb hingegeben hatte, weil er versprochen hatte, sie zu heiraten. Sie hatte ihm gegeben, was er haben wollte, genauso wie sie auch Orhans Drängen nachgegeben hatte. Orhan hatte sie begehrt, um sich Süleyman überlegen zu fühlen – das war zumindest einer der Gründe gewesen. Doch anders als ihr erster Liebhaber ließ Orhan sie nicht fallen, nachdem er sein Ziel erreicht hatte. Er rief an. Er war verliebt. Aber er hatte sie beinahe bewusstlos geschlagen. Das konnte sie einfach nicht hinnehmen, nicht ein zweites Mal!
Ayşe begann noch heftiger zu weinen, als sie erneut die kleinen Schachteln mit dem Schmuck öffnete, den er ihr geschenkt hatte. Bald wurde sie dreißig. Dreißig und allein! Es war schrecklich! Bessere Frauen als sie mussten sich von ihren Männern schlagen lassen; viele türkische Bäuerinnen ertrugen die Prügel im Tausch für ein sicheres Heim. Und auch Ayşe war ihrer lockeren Moral und scheinbaren Kultiviertheit zum Trotz im Grunde nichts anderes als die Tochter eines Bauern. Sie nahm das Mobiltelefon und schaltete es ein. Sobald das Gerät bereit war, tippte sie die Nummer auswendig ein. Aber er hob nicht ab, also hinterließ sie ihm eine Nachricht.
Sie wollte ihn nicht mit ihren Sorgen belasten. Wie oft hatte man ihr schon gesagt, der Fall sei so gut wie abgeschlossen. Ihre Tochter, eine Hure, sei eines natürlichen Todes gestorben, während sie mehreren Männern zu Diensten war. Der Konditor, dieses Dreckschwein, hatte ihr nicht gereicht! Doch so schnell der Zorn in Hürrem aufgeflammt war, so schnell ließ er auch wieder nach. Als sie sah, wie İkmen die Wohnung verließ und Hülya rasch auf der Schwelle umarmte, wusste sie, dass er nicht verärgert sein
Weitere Kostenlose Bücher