Im Gewand der Nacht
würde, wenn sie ihn kurz ansprach …
»Herr Inspektor?«
Er drehte sich um. »Frau İpek.«
Hürrem ging auf ihn zu, den Kopf leicht gesenkt. »Herr Inspektor, ich weiß, dass es Ihnen lästig sein muss, aber … aber Hatice …«
»Schon gut.« Ein trauriges Lächeln huschte über sein schmales Gesicht. »Ich habe Ihre Tochter nicht vergessen, und ich werde auch, wie ich es Ihnen versprochen habe, herausfinden, wer sie geschändet hat, Frau İpek.« Er betrachtete den mit Unrat übersäten Hausflur und seufzte. »Aber mit so wenig Unterstützung seitens meiner Vorgesetzten wird es wohl noch eine Weile dauern.«
»Ich weiß! Ich weiß!« Hürrem rang nervös die Hände.
İkmen streckte impulsiv die Hand aus und berührte sie leicht am Ellbogen. »Sie sind doch bei der Zabita. Da wissen Sie doch, dass ich Ihnen nichts sagen kann, bevor ich meine Informationen nicht überprüft habe.«
»Ja, ich weiß.« Vorsichtig entzog sie ihm ihren Arm, wie es sich für eine anständige Witwe gehörte.
»Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich nicht untätig gewesen bin.«
»Ach, Inspektor, das würde ich niemals …«
»Ich habe Ihnen mein Wort gegeben, Hatices Peiniger vor Gericht zu bringen, und das werde ich auch tun.«
Und damit ging er.
Hürrem İpek blieb in dem dunklen, stickigen Flur zurück und kämpfte gegen die Bilder an, die immer wieder in ihr aufstiegen. Bilder von Hatice, wie sie mit geröteten Wangen von der Schule nach Hause gerannt kam, voll unschuldiger Vorfreude auf ihre geliebte Mutter und Schwester. Wo war dieses kleine Mädchen nur geblieben?
22
Es war ein herrlicher Abend für ein Essen im Freien. Die lähmende Hitze des Tages war einer angenehmen Wärme gewichen, wie geschaffen für ein romantisches Mahl mit der Geliebten. Er würde seinen leichtesten Sommeranzug tragen, sie ein zartes, weißes Baumwollkleid; sie würden eine Vorspeisenplatte bestellen und dazu einen edlen Champagner, denn an einem solchen Abend war das Beste gerade gut genug.
Was für dumme Gedanken! Süleyman lächelte. Sein Hang zur Träumerei erinnerte ihn allmählich so sehr an seinen Vater, dass ihm angst und bange wurde. Andererseits drängten sich an einem Ort wie diesem solch hoffnungslos romantische Ideen förmlich auf: der elegante Malta Köşkü mit dem Flair osmanischer Pracht, der Yıldız-Park mit Panoramablick auf den Bosporus in der Ferne … Süleyman musterte die zahlreichen anderen Gäste auf der Terrasse des Restaurants und fragte sich, was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten, dass er hier, wo sie speisten, gewissermaßen zu Hause war. Er fragte sich außerdem, wie Vedat Sivas – jene schattenhafte Gestalt gleich hinter der Eingangstür des Pavillons – es fertig brachte, sich mit einer solchen Ruhe in der Öffentlichkeit zu zeigen. Immerhin wurde er gesucht, und wahrscheinlich nicht nur von der Polizei. Aber er hatte natürlich ganz andere Dinge im Kopf. Leute wie Orhan Tepe zum Beispiel, der vorhin – wie Süleyman hinter seiner Zeitung durch eine dunkle Sonnenbrille beobachtet hatte – von Vedat ins Gebäude geleitet worden war, zusammen mit Ali Müren und einem sehr gut gekleideten Mann, vermutlich einem Ausländer. İkmen und İskender hockten irgendwo zwischen den Bäumen und Sträuchern, die den Hang bedeckten. İkmen war überrascht gewesen, als Süleyman ihn per Mobiltelefon über Mürens Anwesenheit informiert hatte. Ali Müren war ein Nichts, ein armseliger Gangster, das Oberhaupt einer zweitrangigen Familie – ein Schlägertyp. Trotzdem hatte er offenbar Beziehungen. Über seine Söhne war er möglicherweise in den Fall Hatice İpek verwickelt, der wiederum eine Verbindung zu Vedat Sivas aufwies, und zwar über dessen Bruder Hikmet. İkmen war inzwischen davon überzeugt, dass Hikmet zu den prominenten Kunden des Harems zählte. All das legte den Schluss nahe, dass dieses Treffen zwischen Müren, Vedat und einer Gruppe offenbar reicher Männer in irgendeiner Weise mit dem Harem zu tun hatte. Trotzdem kam Süleyman das alles ziemlich undurchsichtig vor.
Er nippte an seinem ausgesprochen teuren Kaffee und steckte sich eine Zigarette an. Eine junge Frau mit glattem, schwarzem Haar, das wie ein altägyptischer Kopfschmuck geschnitten war, saß am Tisch gegenüber und lächelte ihn an. Der Polizist erwiderte den Gruß mit einem Nicken und versteckte die Augen wieder hinter der Sonnenbrille. Schiwkow war noch nicht aufgetaucht. Seit der Ankunft Tepes und seiner neuen Freunde hatten
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