Im Gewand der Nacht
nichts ändern, und das machte ihn wütend. Eine Frau wie Ayşe brauchte mehr als ein paar vage Versprechungen, damit ihr Interesse wach blieb und sie sich von seiner Ehefrau fern hielt. Beim Gedanken daran huschte ein dunkler Schatten über sein Gesicht – doch dann setzte Ayşe sich auf ihn und beendete seine Grübeleien. Und Orhan Tepe gab sich nur zu gern dem Vergessen hin.
Sie hatten zwar keine Zwischenstation in Amsterdam eingeplant, aber als Hikmet hörte, dass ihr Anschlussflug nach Istanbul mindestens drei Stunden Verspätung hatte, beschloss er, eine Ruhepause einzulegen. Und da Geld keine Rolle spielte, buchte er zunächst ihren Flug um und checkte sie dann in dem exklusiven »Boatel« ein. Dort schliefen Kaycee und er miteinander, tranken mehrere Flaschen Champagner und sahen zu, wie die Sonne über der Stadt unterging. Es war ein romantischer Abend, den beide sehr genossen, bis Kaycee schließlich entspannt einschlief und ihren Mann seinen Gedanken überließ. Hikmet warf einen Blick in den Spiegel an der Wand und runzelte die Stirn. Es behagte ihm überhaupt nicht, dass seine Frau keinen Schimmer hatte, warum sie seinen Geburtsort besuchten. Er hatte gehofft, ungeachtet seines hohen Alters mit Kaycee ein neues Leben beginnen zu können. Doch tief in seinem Herzen wusste Hikmet – und hatte es immer gewusst –, dass das nicht möglich sein würde. Er schaltete sein Mobiltelefon ein und rief seinen Bruder an.
Als Vedat den Hörer abnahm, gab Hikmet sich zu erkennen und sagte dann: »Es hat eine Änderung des Plans gegeben.«
»Aber es eilt«, erwiderte Vedat, und in seiner Stimme schwang Angst mit.
»Ja, ich weiß, und es tut mir auch Leid«, sagte Hikmet. » Aber unser Flug wurde verschoben, und ich brauchte unbedingt eine Pause. Das Ganze erfüllt mich mit großer Sorge. Ich bin nicht mehr der Jüngste, Vedat. Ich weiß nicht, ob ich das noch schaffe …«
»Also, wann wirst du hier sein?«, unterbrach sein Bruder ihn ungeduldig.
»Unser Flugzeug landet morgen Nachmittag um viertel nach drei in Istanbul. Inschallah kommen wir pünktlich an.«
»Ich werde euch abholen.«
»Danke.« Hikmet rieb sich müde das Gesicht. »Ich freue mich so darauf, dich wiederzusehen, Vedat, dich und unsere geliebte Hale.«
»Ja.«
Eine merkwürdige, kalte Reaktion, die Hikmet verwunderte. Er hatte seinen Bruder und seine Schwester lange nicht gesehen, und abgesehen von der Tatsache, dass er die beiden sozusagen finanziell über Wasser hielt, hatten sich die drei Geschwister immer sehr nahe gestanden, zumindest früher. Aber vielleicht gab Vedat ihm auch die Schuld an allem, was geschehen war. Schließlich musste er damit leben, schließlich war er auf eine Weise in die Geschichte verstrickt, die Hikmet eine ganze Weile bewusst ignoriert hatte. Sie würden Vedat nicht ungeschoren lassen …
Als Hikmet Sivas sich von seinem Bruder verabschiedete, schauderte es ihn. Heute war er in Amsterdam, morgen würde er in Istanbul sein. Nur Allah wusste, was dann geschehen würde – und was jetzt schon geschrieben stand.
Hikmet Sivas, Filmstar und Millionär, legte sich neben seine schlafende Frau und schloss die Augen.
6
Bei Çetin İkmen ließ sich nur schwer feststellen, wann er besonders müde oder angespannt war. Verglichen mit anderen Menschen wirkte sein Gesicht selbst im Normalzustand zerfurcht und verdrossen. Die enge Zusammenarbeit mit ihm hatte Orhan Tepe jedoch gelehrt, dass ein besonders fieberhaftes Leuchten in İkmens Augen Aufschluss darüber gab, dass er wenig Schlaf bekommen hatte. Als er İkmens glasigen, leicht irren Blick sah, schien es Tepe fast, als habe sein Vorgesetzter in der vergangenen Nacht noch weniger geschlafen als er selbst. Aber Tepe hatte sich mit Ayşe Farsakoğlu vergnügt, während İkmen aussah wie ein Mann, der sich weit grausigeren Aufgaben gewidmet hatte.
»Hatice İpek ist vor ihrem Tod sowohl vaginal als auch anal vergewaltigt worden«, sagte İkmen ohne jede Vorankündigung, als Tepe das Büro betrat. »Jemand hat ihr im Schambereich Schnitte zugefügt, vermutlich mit einer Rasierklinge.«
»Tatsächlich.« Tepes Reaktion klang kalt und gefühllos, was İkmen merkwürdig vorkam.
»Sie war zwar keine Jungfrau mehr«, fuhr İkmen fort, »aber das erscheint mir angesichts der Schwere der Verletzungen nicht weiter relevant. Man hat sie geschlagen und mit einer Klinge verletzt, und sie hat sich gewehrt. Das erfüllt den Tatbestand der Vergewaltigung. Wer auch immer dieses
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