Im Gewand der Nacht
brechen und sie schwer verletzen müssen, um zu bekommen, was er wollte.
İkmen schickte Tepe an die Arbeit und wandte sich in Gedanken kurz von der armen Hatice ab. In den frühen Morgenstunden hatte Zelfa Halman Süleyman einem großen, gesunden Knaben das Leben geschenkt, wie Balthasar Cohen, ein alter Freund von İkmens ehemaligem Assistenten zu berichten wusste. Nachdem er bei dem Erdbeben 1999 beide Beine verloren hatte, beschäftigte sich Ex-Hauptwachtmeister Cohen jetzt intensiv mit den Ereignissen im Leben seiner Freunde. Immer für ein Gerücht gut, sammelte und verbreitete er Neuigkeiten auf wesentlich effizientere Weise als die meisten anderen Medien, vom Internet vielleicht abgesehen. In seiner Wohnung in Karaköy trafen sich regelmäßig Freunde und Bekannte, und Cohen besaß mehrere Telefonapparate, von denen er einen dazu benutzt hatte, İkmen morgens um fünf über die Geburt von Süleymans Sohn zu informieren.
Das Kind sollte Yusuf İzzeddin heißen, wie Cohen İkmen erzählte, und damit den Namen eines seiner adligen Vorfahren tragen, eine Tatsache, die besonders Mehmets Vater erfreute, der für seinen Enkel offenbar die größte und schwerste Goldmünze in der ganzen Stadt gekauft hatte. İkmen lächelte. Wie typisch osmanisch das doch war: Das Kind bekam den Namen eines fürstlichen Vorfahren, und seine adligen Verwandten überbrachten Gold … Auch er würde eine Goldmünze besorgen müssen, wenn auch sicherlich eine kleinere. Mehmet war nicht nur sein Kollege, sondern auch sein Freund, und Geld hin oder her: Fatma wäre empört, wenn er nicht ein Geschenk besorgte.
Diese Aufgabe würde allerdings noch etwas warten müssen. In der Zwischenzeit war es notwendig, seine Kenntnisse über Hatice İpek zu vertiefen, was bedeutete, dass er noch einmal mit ihrer Mutter sprechen musste, dieses Mal jedoch in einem offizielleren Rahmen als zuvor.
Das war schon der zweite Besuch, den die Polizei der Pastahane abstattete. Beide Male hatten sie mit Hassan sprechen wollen, und obwohl Suzan Şeker sich davon zu überzeugen versuchte, dass sie etwas falsch verstanden hatte, konnte sie sich genau daran erinnern, dass im ersten Gespräch zwischen ihrem Mann und dem Polizeibeamten der Name Hatice İpek gefallen war. Hatice. Beim Gedanken an sie runzelte Suzan die Stirn. Sie war ein nettes Mädchen gewesen, beliebt bei den Kunden und sehr geschickt bei der Arbeit – im Grunde genommen perfekt, wenn sie sich nicht mit Hassan eingelassen hätte. Suzan hatte die beiden nur einmal gesehen, aber das genügte ihr. Durch einen Spalt in der Bürotür hatte sie beobachtet, wie ihr Mann die Brüste des Mädchens streichelte und sie küsste. Noch heute konnte sie Hatices genussvolles Aufstöhnen hören.
Doch jetzt war das Mädchen tot, und irgendwie hatte die Polizei von Hassans Beziehung zu ihr erfahren – das nahm Suzan zumindest an. Denn es war doch ziemlich ungewöhnlich, einen einfachen Arbeitgeber dreimal zu verhören, davon einmal auf der Wache. Jetzt saß ihr Mann mit dem Wachtmeister in seinem Büro. Vor der Tür hatten sich zwei Uniformierte postiert; sie tranken Kaffee und lauschten zweifellos den manchmal lauter werdenden Stimmen, die aus dem Büro drangen. Irgendwie ergab es keinen Sinn, so viele Polizisten für solch einen langen Zeitraum abzustellen, es sei denn, sie hatten vor, Hassan festzunehmen. Aber trotz allem war Suzan von seiner Unschuld überzeugt. Natürlich wurden ihre Gefühle durch den Umstand beeinflusst, dass er ihr Ehemann, der Vater ihrer Kinder und ungeachtet aller Vorfälle immer noch der Mann war, den sie liebte. Doch es sprach noch etwas anderes für ihre Überzeugung: die Tatsache, dass Hassan bei all seinen Fehlern und Unzulänglichkeiten nicht zu Gewalttätigkeiten neigte. Er verabscheute Gewalt. Das war auch einer der Gründe, warum sie nicht annähernd so wohlhabend waren wie die Leute annahmen. Sein Vater Kemal hingegen war aus ganz anderem Holz geschnitzt. Als er noch das Geschäft führte, hätte er sich von den drei Männern nicht einschüchtern lassen, die in diesem Moment die Pastahane betraten und sich an der Eingangstür niederließen. Die Männer, die allesamt leuchtend bunte, weit offen stehende Hemden trugen und mit hässlichem Schmuck behängt waren, grinsten affektiert, als Suzan zu ihnen an den Tisch trat. Es würde ihr ein Vergnügen sein, ihnen zu verraten, wer hinter der Trennwand vor dem Büro ihres Mannes saß.
Sie beugte sich vor, um mit dem ältesten der
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