Im Gewand der Nacht
Verbrechen an ihr begangen hat, wird dafür bestraft werden.«
»Was war denn nun die Todesursache?«, fragte Tepe, wäh rend er sich an seinen Schreibtisch setzte und İkmens hageres, graues Gesicht musterte.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte İkmen. »Das muss Dr. Sarkissian noch ermitteln. In der Zwischenzeit sollten wir herausfinden, mit wem das Mädchen sexuelle Beziehungen unterhielt. Das könnte uns auf die Spur des Täters oder der Täter führen. Hatice hat meiner Tochter zwar nichts erzählt, aber wie wir wissen, hat Hülya etwas beobachtet und ihre eigenen Schlüsse gezogen. Hatices Mutter ist allerdings nach wie vor davon überzeugt, dass ihre Tochter Jungfrau war. Und dann wäre da natürlich noch Herr Şeker.« Er lächelte freudlos.
»Den wir haben laufen lassen«, sagte Tepe und zündete sich die erste Zigarette des Tages an.
»Ja«, bestätigte İkmen, »den wir haben laufen lassen. Und wenn die Aussagen von meiner Tochter und Herrn Sılay nicht so genau übereinstimmen würden und nicht so hervorragend zum Bild von Hatices ruiniertem Ruf passten, würde ich Şeker vielleicht Glauben schenken. Aber Hatice war keine Jungfrau mehr, und meine Tochter steht felsenfest zu ihren Beobachtungen. Şeker hat Hatice angegrabscht, und es hat ihr gefallen. Sie war ein hübsches Mädchen, und er ist ein gut aussehender Mann.«
»Nur weil er was mit ihr hatte, heißt das noch nicht, dass er sie auch umgebracht hat.«
»Stimmt, dennoch würde ich gern den genauen Sachverhalt kennen«, sagte İkmen. »Ich habe ihn zwar laufen lassen, aber das war gestern, und heute ist heute.« Er steckte sich eine Zigarette an und stützte sich müde auf seine Ellbogen. »Nehmen Sie ein paar Männer mit und üben Sie ein wenig Druck auf Herrn Şeker aus. Überzeugen Sie ihn davon, dass er sich die Peinlichkeit einer Samenprobe ersparen kann, vorausgesetzt, er trifft die richtige Entscheidung. Seien Sie nett zu ihm.«
»In Ordnung, Chef.« Tepe stand auf.
»Ach ja, wenn Sie schon mal dabei sind, können Sie sich vielleicht auch ein paar Gedanken über die Kleidung machen, die Hatice am Abend ihres Todes trug.«
»Das war irgend so ein langes Kleid, oder?«
»Ja.« İkmen runzelte die Stirn. »Dr. Sarkissian ist der Ansicht, dass das Gewand nicht nur altmodisch aussieht, sondern auch tatsächlich ziemlich alt ist. Es kommt mir unwahrscheinlich vor, dass ein modernes Mädchen wie Hatice sich selbst solch ein Kleidungsstück ausgesucht hat. Ihre Aufmachung könnte also möglicherweise auf eine bestimmte Vorliebe ihres Vergewaltigers hindeuten.«
»Sie glauben, der Täter hat ihr das Kleid vorher angezogen? So was in der Art?«
»Laut Aussage meiner Tochter wollte Hatice zu einem Treffen mit ein paar netten Männern, denen sie etwas vortanzen sollte, damit sie sie in die Unterhaltungsbranche einführten. Aber wie Sie und ich ja wissen, haben Mädchen, die für ›nette Männer tanzen‹, nicht unbedingt viel am Leib, und schon gar keine kunstvoll gearbeiteten Gewänder.« İkmen lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und blickte dem Zigarettenqualm nach, der zur Decke schwebte. »Ich habe darüber nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir den oder die Täter wahrscheinlich nicht in den Kreisen finden werden, in denen wir in einem Fall wie diesem normalerweise als Erstes suchen würden.«
»Ach.«
Ein einfaches kleines Wort, das kaum etwas aussagte, İkmen aber mächtig ärgerte. Tepe hatte nichts begriffen und einfach nur irgendein Geräusch gemacht, um diesen Umstand zu verschleiern. Er war das genaue Gegenteil von Süleyman, der immer alles hinterfragt und kommentiert und sich eine eigene Meinung gebildet hatte. Andererseits wusste İkmen nur allzu gut, dass Süleyman nicht nur gebildeter war als Tepe, sondern auch wesentlich besser in der Lage, sein Privatleben während der Arbeitszeit aus seinen Gedanken zu verbannen. In Momenten wie diesem vermisste İkmen Süleyman schmerzlich. Aber zumindest konnte Tepe bei Hassan Şeker keinen größeren Schaden anrichten, selbst wenn er tatsächlich die ganze Zeit an Ayşe Farsakoğlu dachte. Şeker hatte möglicherweise Hatice ihre Jungfräulichkeit geraubt, doch er kam im Grunde weder für die Vergewaltigung noch für ihren gewaltsamen Tod in Frage, das spürte İkmen genau. Schließlich hatten sowohl Hülya als auch Ahmet Sılay ausgesagt, dass Hatice Hassans Avancen gefielen. Dagegen hatte derjenige, der Hatice in dieses Kleid gesteckt hatte, ihren Widerstand
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